Libet-Experimente

Haben Menschen einen freien Willen?

Robert Klatt

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Die Libet-Experimente aus den 1970er- und 1980er-Jahren deuteten darauf hin, dass Menschen keinen freien Willen haben. Nun wurden die Experimente wiederholt, um das wissenschaftliche Rätsel zu lösen.

Moskau (Russland). In der Wissenschaft wird schon seit Jahrhunderten darüber diskutiert, wie viel freien Willen Menschen bei ihren Entscheidungen haben. Benjamin Libet hat in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Experimenten die die Elektroenzephalografie (EEG) nutzten, belegt, dass die Absicht von Menschen eine Bewegung auszuführen, etwa 0,5 bis 1,5 Sekunden davor in der EEG-Aktivität sichtbar ist. Die sogenannten Libet-Experimente zeigten somit, dass das Gehirn eine Entscheidung trifft, bevor der Mensch es realisiert. Handlungen wären somit lediglich das Resultat eines unbewussten physiologischen Prozesses im Gehirn.

Die Libet-Experimente haben zu Kontroversen über den freien Willen geführt. Manche Neurophysiologen kamen dabei zu dem Ergebnis, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Überdies wurden die Libets Experiment mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) wiederholt. Die Experimente zeigten, dass die Entscheidung des Menschen bereits sechs bis zehn Sekunden vor dem Bewusstsein im Gehirn stattfindet.

Libet-Experimente hinterfragt

Forscher der National Research University Higher School of Economics (HSE University) um Dmitry Bredikhin haben die Libet-Experimente infrage gestellt und erneut untersucht. Laut ihrer Publikation im Fachmagazin Neuropsychologia kamen sie dabei zu dem Ergebnis, dass der Zeitpunkt des Bewusstseins der Absicht in Libets Experimenten falsch bestimmt wurde. Überdies hat die EEG-Aktivität oder das Gehirnsignal, das die Bereitschaft zu einer Entscheidung anzeigt, welches von Benjamin Libet vor der Entscheidung aufgezeichnet wurde, tatsächlich keine direkte Verbindung zu dieser Entscheidung.

Wiederholung der Libet-Experimente

Im ursprünglichen Experiment von Libet haben die Probanden ihre Handgelenke gebeugt. Parallel sollten sie sich an den Moment erinnern, in dem sie sich bereit fühlten, diese Handlung auszuführen. Der Zeitpunkt des Bewusstseins der Absicht wurde aus den Worten der Versuchspersonen selbst aufgezeichnet. Sie beobachteten einen Punkt, der sich entlang des Bildschirmzifferblatts bewegte, ähnlich einem Uhrzeiger, und gaben die Position des Punktes an, als sie den Wunsch verspürten, ihre Hand zu beugen. Der Moment der endgültigen Entscheidung wurde durch die genaue Ablesung des Sensors bestimmt, der am Handgelenk der Versuchspersonen befestigt war.

Die Neurowissenschaftler der HSE University haben das Experiment mit zwei Gruppen wiederholt, die leicht unterschiedliche Aufgaben absolviert haben. Mit Hilfe von Verhaltensberichten und hypersensitiven EEG-Techniken untersuchten die Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des Bewusstseins der Absicht und dem Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung. Es stellte sich heraus, dass der Zeitpunkt des Bewusstseins durch experimentelle Verfahren beeinflusst werden kann.

Zum Beispiel sind die Versuchspersonen ohne bestimmtes Training kaum in der Lage, ihre Absichten zu bestimmen. Die Libet-Experimente setzten aber voraus, dass sie den Moment der Entscheidungsfindung und Absicht bestimmen können. Anscheinend lässt die Anweisung selbst in der Libet-Aufgabe die Teilnehmer glauben, dass die Absicht lange vor der endgültigen Entscheidung entstehen sollte.

Dynamik des Entscheidungsprozesses

Die Experimente der HSE University belegen zudem, dass keine direkte Verbindung zwischen der Aktivität des Gehirns vor der Handlung und der Absicht zur Ausführung der Handlung gibt. Das Gefühl der Absicht trat bei den Versuchspersonen zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf, während das Bereitschaftspotential immer etwa zur gleichen Zeit registriert wurde. Daher könnte das Bereitschaftspotential die allgemeine Dynamik des Entscheidungsprozesses zur Ausführung einer Bewegung widerspiegeln, aber das bedeutet nicht, dass die Absicht zu handeln bereits generiert wurde.

„Unsere Studie hebt die Mehrdeutigkeit von Libets Forschung hervor und beweist die Abwesenheit einer direkten Korrelation zwischen dem Gehirnsignal und der Entscheidungsfindung. Es scheint, dass das klassische Libet-Paradigma nicht geeignet ist, die Frage zu beantworten, ob wir beim Treffen von Entscheidungen freien Willen haben. Wir müssen einen neuen Ansatz für dieses äußerst interessante wissenschaftliche Rätsel finden.“

Die ungelöste Frage: Gibt es den freien Willen wirklich?

Laut Vasily Klucharev ist die Frage nach dem freien Willen und der Verantwortung für unser Handeln ein zentraler Punkt in den Untersuchungen der Neurowissenschaften. Es ist somit von entscheidender Bedeutung, mit hoher Genauigkeit zu arbeiten, wenn es darum geht, Schlussfolgerungen zu ziehen, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Lebensanschauung und Einstellung des Menschen haben. Die Autoren haben sich deshalb intensiv mit der Vorherbestimmung der Entscheidungen auseinandergesetzt und dabei einige Schwächen in den Libet-Experimente entdeckt.

Ob Menschen einen freien Willen haben, konnte die Studie der HSE University aber nicht abschließend beantworten. Stattdessen zeigt sie, dass es noch viele offene Fragen gibt. Diese anhaltende Unsicherheit und die fortwährende Suche nach Antworten machen die Neurowissenschaften zu einem spannenden Forschungsfeld.

Neuropsychologia, doi: 10.1016/j.neuropsychologia.2023.108570

Spannend & Interessant
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