Dennis L.
Kann allein der Geruch reifender Früchte Krebs bremsen? Ein Team in Kalifornien hat entdeckt, dass bestimmte Duftmoleküle als histondeacetylasehemmende Mini-Medikamente wirken und Epigenetik in Zellen gezielt verändern. In Fruchtfliegen, Mäusen und kultivierten Krebszellen wurden nach wenigen Tagen veränderte Genaktivitätsmuster und ein verlangsamtes Tumorwachstum beobachtet. Noch ist unklar, wie sicher solche Duftstoffe beim Menschen wären und ob sich daraus eines Tages eine neue, nichtinvasive Krebstherapie entwickeln lässt.
In der Medizin gilt der Geruchssinn traditionell eher als diagnostisches Werkzeug: Der Atem kann auf Stoffwechselstörungen hinweisen, der typische Geruch bestimmter Infektionen hilft Ärzten bei der Einordnung von Symptomen. Parallel dazu hat sich die Aromatherapie etabliert, in der ätherische Öle zur Entspannung, gegen Schlafprobleme oder zur Linderung von Ängsten verwendet werden. Die meisten dieser Anwendungen stützen sich jedoch auf kleine Studien mit begrenzter Aussagekraft, und nur wenige Mechanismen sind auf molekularer Ebene wirklich gut verstanden. Klar ist vor allem, dass Düfte über den Geruchsnerv Hirnregionen erreichen, die Emotionen, Aufmerksamkeit und vegetative Funktionen steuern, und so indirekt Blutdruck, Herzfrequenz und Stresshormone beeinflussen können.
Nun tritt ein weiterer, überraschender Mechanismus in den Vordergrund: Duftmoleküle, die aus reifenden Früchten oder fermentierten Lebensmitteln entweichen, scheinen weit über die Nase hinaus zu wirken. Ein Forscherteam der University of California in Riverside berichtet, dass bestimmte flüchtige Verbindungen wie Diacetyl direkt in Zellen eindringen, dort Histon-Deacetylasen blockieren und so die Verpackung der DNA verändern. In Laborversuchen veränderten sich dadurch Genaktivität und Chromatinstruktur nicht nur in den Riechorganen, sondern auch in entfernten Geweben ohne Geruchsrezeptoren. Die Ergebnisse wecken die Hoffnung, dass sich Düfte eines Tages gezielt nutzen lassen, um epigenetische Programme umzuschalten und Krankheiten wie Krebs oder Neurodegeneration schon sehr früh zu beeinflussen, bevor sichtbare Schäden entstehen.
Damit Düfte wirken können, müssen ihre Moleküle zunächst in die Luft entweichen, über die Atemluft in den Körper gelangen und dort biologische Zielstrukturen erreichen. Ein Teil bindet an Geruchsrezeptoren in der Nasenschleimhaut, löst elektrische Signale aus und aktiviert Hirnareale, die Geruch, Erinnerung und Emotion verknüpfen. Darüber hinaus können kleine, lipophile Moleküle die Schleimhäute passieren, in den Blutkreislauf übergehen und sich im Organismus verteilen. Genau diese Eigenschaft macht sie zu potenziellen Modulatoren der Genaktivität, denn sie können Zellmembranen und sogar die Kernhülle überwinden. Epigenetische Mechanismen wie DNA-Methylierung oder Histon-Acetylierung entscheiden, welche Gene in einer Zelle gelesen werden und welche stumm bleiben; sie lassen sich prinzipiell durch chemische Signale von außen beeinflussen, wie die Forschung zu Epigenetik zeigt.
Im Zentrum der aktuellen Experimente steht Diacetyl, ein flüchtiges Stoffwechselprodukt von Hefen, das in vielen fermentierten Lebensmitteln und reifenden Früchten vorkommt. In Zellkulturen und Tiermodellen wirkt Diacetyl als Hemmstoff von Histon-Deacetylasen, also Enzymen, die normalerweise Acetylgruppen von Histonen entfernen und dadurch das Chromatin enger zusammenziehen. Wird diese HDAC-Aktivität blockiert, lockert sich die Verpackung der DNA, und bislang stille Gene können wieder abgelesen werden. Solche HDAC-Inhibitoren werden bereits als Medikamente gegen bestimmte Blutkrebserkrankungen eingesetzt. Dass ein alltägliches Duftmolekül über denselben Mechanismus auf Zellen einwirkt, legt nahe, dass auch Umgebungsdüfte über lange Zeiträume stille genetische Programme im Körper modulieren könnten.
Um diesen Verdacht zu prüfen, setzte das kalifornische Team zunächst Fruchtfliegen über mehrere Tage einer kontrollierten Diacetyl-Atmosphäre aus. Schon nach kurzer Zeit ließen sich in den Antennen der Tiere – dem Pendant zur menschlichen Nasenschleimhaut – deutliche Veränderungen der Genexpression nachweisen. Die Forscher fanden jedoch auch Effekte in entfernten Geweben, was darauf schließen lässt, dass das Molekül in den gesamten Organismus gelangt. In Mäusen zeigte sich ein ähnliches Bild: Nach wiederholter Exposition konnten in Lunge und Gehirn veränderte Muster der Genaktivität gemessen werden, darunter ein Abfall der Expression von Genen, die in bestimmten Tumorarten wie Neuroblastomen typischerweise hochreguliert sind. Die detaillierten Ergebnisse sind in einer eLife-Studie zu HDAC-hemmenden Duftstoffen beschrieben, in der auch chromatinbezogene Marker wie Histon-H3K9-Acetylierung systematisch erfasst wurden.
In weiteren Versuchen nutzte das Team kultivierte menschliche Krebszellen, um die direkte Wirkung der Düfte auf Tumorgewebe zu untersuchen. Diacetyl und verwandte Moleküle wurden dabei nicht in die Nährlösung gegeben, sondern nur als Dampf in die Umgebung der Zellkulturen eingebracht. Trotzdem stieg in den Zellen die Acetylierung bestimmter Histonpositionen an, und die Proliferation von Neuroblastoma-Zellen kam weitgehend zum Stillstand. Gleichzeitig konnte in einem Fliegenmodell für Huntington-Krankheit gezeigt werden, dass eine chronische Exposition gegenüber Diacetyl die Neurodegeneration verlangsamt. Zusammen ergeben diese Befunde ein konsistentes Bild: Bestimmte Düfte wirken im Organismus wie HDAC-Inhibitoren, beeinflussen Epigenetik und Genaktivität und können unter Laborbedingungen Krebszellen und Neurodegeneration messbar bremsen.
Zwischen diesen Ergebnissen und einer alltagstauglichen Therapie für Patienten liegt jedoch ein weiter Weg. Die im Labor verwendeten Duftkonzentrationen sind genau kontrolliert und können deutlich höher sein als das, was in einer normalen Wohnumgebung erreicht wird. Zugleich ist Diacetyl selbst als Inhalationsstoff nicht unproblematisch: Aus der Arbeitsmedizin ist bekannt, dass hohe Konzentrationen langfristig die Lunge schädigen können. Die Forscher betonen daher, dass Diacetyl eher als Modellmolekül dient, um das Prinzip zu belegen, während parallel nach anderen Duftstoffen mit günstigerem Sicherheitsprofil gesucht wird. Ziel wäre, eine Klasse von volatilen HDAC-Inhibitoren zu identifizieren, die Krebszellen und neurodegenerative Prozesse beeinflussen, ohne gesundes Gewebe dauerhaft zu schädigen oder Entzündungen auszulösen, wie sie bei toxischen Gasen auftreten.
Sollten sich solche Kandidaten finden, könnten sie eines Tages klassische Therapien ergänzen. Denkbar wäre, dass Patienten zusätzlich zu Chemotherapie, Immuntherapie oder neuartigen Ansätzen wie einem Nanoroboter in der Krebstherapie eine exakt dosierte Duftmischung einatmen, die epigenetische Programme in Tumorzellen moduliert. Auch eine präventive Anwendung wäre vorstellbar: Wenn sich zeigt, dass bestimmte Duftprofile Entzündungssignale reduzieren oder DNA-Reparaturwege aktivieren, könnten Personen mit hohem genetischem Risiko gezielt davon profitieren. Vorerst bleibt dies allerdings spekulativ, denn es existieren weder klinische Studien noch belastbare Daten dazu, welche Dosis über welchen Zeitraum beim Menschen sicher wäre. Die derzeitige Forschung begrenzt sich auf Zellkulturen, Tiermodelle und erste Patentanmeldungen für volatilenbasierte Epigenetik-Plattformen.
Die Idee, Krankheiten mit Düften zu beeinflussen, knüpft an etablierte Aromatherapie-Traditionen an, geht aber deutlich darüber hinaus. In klinischen Studien konnte etwa gezeigt werden, dass Rosen-Essenz die Angst von Herzpatienten senkt und deren Schlafqualität verbessert, während Lavendelöl Blutdruck, Puls und Stresshormonspiegel reduzieren kann. Gleichzeitig weisen systematische Übersichtsarbeiten darauf hin, dass viele Untersuchungen kleine Fallzahlen und methodische Schwächen haben. Die mechanistischen Ansätze der neuen Duftforschung setzen tiefer an: Sie untersuchen, wie der Geruchssinn und flüchtige Moleküle auf neuronale Schaltkreise, Immunantworten und epigenetische Programme einwirken und damit möglicherweise die Entstehung oder den Verlauf von Neurodegeneration und Krebs beeinflussen. Beobachtungen, dass Hunde riechen Stress oder Erkrankungen am Schweiß eines Menschen erkennen, unterstreichen, wie eng Geruchssinn, Stoffwechsel und Krankheitsprozesse vernetzt sind.
Offen bleibt, welche langfristigen Effekte eine wiederholte Exposition gegenüber solchen Duftstoffen auf gesunde Menschen hätte. Der Geruchssinn ist an mindestens 139 Erkrankungen beteiligt, und Störungen des Geruchssinns können frühen Phasen von Demenzen oder Parkinson vorausgehen. Wenn Düfte tatsächlich als HDAC-Inhibitoren wirken, wäre denkbar, dass sie nicht nur wünschenswerte, sondern auch unerwartete epigenetische Effekte auslösen. Zudem ist unklar, wie sich individuelle Faktoren wie genetische Varianten, Vorerkrankungen oder bereits laufende Therapien auf die Reaktion des Körpers auswirken. Der Übergang von der Laborbank zum Krankenhaus erfordert daher sorgfältig kontrollierte klinische Studien, toxikologische Prüfungen und einen engen Abgleich mit bestehenden Strategien der Krebsprävention und -therapie, etwa mit neuen Ansätzen in der Krebsforschung, die auf Früherkennung und präzise molekulare Zielstrukturen setzen. Erst wenn diese Fragen geklärt sind, lässt sich abschätzen, ob Düfte eines Tages tatsächlich als reguläre Krebstherapie eingesetzt werden können oder vor allem als spannendes Modell dienen, um die Grenzen der Epigenetik auszuloten.
eLife, Plasticity of gene expression in the nervous system by exposure to environmental odorants that inhibit HDACs; doi:10.7554/eLife.86823