Dennis L.
Mit einem digitalen Gehirnzwilling versuchen Forscher, die unsichtbaren Frühzeichen einer Schizophrenie in Hirnnetzwerken sichtbar zu machen. Auf Basis von MRT-Daten, EEG, Blutwerten und Genetik rekonstruiert Künstliche Intelligenz individuelle Modelle, die das Zusammenspiel von Milliarden Nervenzellen simulieren. Diese Modelle sollen vorhersagen, wie sich Symptome und Funktionsniveau eines Patienten über Jahre entwickeln und wie gut verschiedene Medikamente oder Hirnstimulationsverfahren wirken könnten. Gleichzeitig muss sich das Verfahren in klinischen Studien erst beweisen und zeigen, ob es die Behandlung wirklich besser steuert als bisherige Entscheidungsalgorithmen.
Schizophrenie gehört zu den schwersten psychischen Erkrankungen und verläuft oft chronisch. Weltweit sind nach epidemiologischen Schätzungen rund 0,7 bis 1,0 Prozent der Bevölkerung im Verlauf des Lebens betroffen, meist im jungen Erwachsenenalter. Die Symptome reichen von Halluzinationen und Wahnvorstellungen über kognitive Defizite bis zu sozialem Rückzug und massiven Funktionsverlusten im Alltag. Für Betroffene bedeutet dies häufig unterbrochene Bildungswege, Arbeitsplatzverlust und ein erhöhtes Suizidrisiko, während Angehörige langfristig hohe Belastungen tragen. Gleichzeitig beginnen viele Krankheitsverläufe mit unspezifischen Anzeichen wie Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen oder leichten Wahrnehmungsveränderungen, die leicht übersehen oder anderen Störungen zugeschrieben werden. Die großen Herausforderungen bestehen deshalb darin, besonders gefährdete Personen früh zu erkennen und individuelle Verläufe zuverlässig abzuschätzen, bevor eine manifeste Psychose auftritt. Klassische Diagnostik mit Gesprächen, Fragebögen und einzelnen Messungen bildet diese Komplexität nur eingeschränkt ab und liefert bislang kaum belastbare Prognosen über mehrere Jahre hinweg.
In der sogenannten Präzisionspsychiatrie versuchen Forscher, aus vielen Datenpunkten eines einzelnen Patienten ein differenziertes Risikoprofil und eine maßgeschneiderte Behandlung abzuleiten. Künstliche Intelligenz kann hierbei komplexe Muster in Bildgebung, Laborwerten, Genetik und klinischen Skalen erkennen, die klassischen statistischen Verfahren verborgen bleiben. Erste Deep-Learning-Modelle erreichen bei der Unterscheidung zwischen Schizophrenie und gesunden Kontrollen auf strukturellen MRT-Daten eine sehr hohe Genauigkeit, indem sie dreidimensionale Hirnstrukturen als Ganzes auswerten. Solche Modelle liefern jedoch meist nur Wahrscheinlichkeiten für eine Diagnose und erklären nicht, wie sich Störungen in Netzwerken von Nervenzellen über die Zeit entfalten. Aus der Ingenieurwissenschaft stammt daher die Idee des digitalen Zwillings, der den Zustand einer komplexen Maschine virtuell abbildet und ihr Verhalten in zukünftigen Szenarien simuliert. Auf die Psychiatrie übertragen führt dieses Konzept zu einem digitalen Gehirnzwilling, der reale Messdaten mit biophysikalischen und datengetriebenen Modellen verbindet und damit neue Möglichkeiten für Risikoabschätzung, Therapieplanung und Monitoring eröffnet.
Der digitale Gehirnzwilling setzt genau hier an und verbindet neurowissenschaftliche Grundlagenforschung mit moderner Rechenarchitektur. In aktuellen Projekten programmieren Forscher ein virtuelles Abbild des Gehirns, das besonders für Schizophrenie relevante Strukturen und Netzwerke nachbildet und mit individuellen Patientendaten speist. Im Zentrum steht ein digitaler Gehirnzwilling, der als dynamisches Modell die Aktivität ganzer Hirnnetzwerke simuliert, statt nur einzelne Regionen oder Messwerte zu betrachten. Das von europäischen Konsortien aufgebaute Ökosystem des Projekts Virtual Brain Twin soll für tausende Patienten mit Schizophrenie maßgeschneiderte Simulationen ermöglichen und wird mit einem Budget im zweistelligen Millionen-Euro-Bereich über mehrere Jahre gefördert. In klinischen Studien werden diese virtuellen Hirnmodelle zunächst in spezialisierten Zentren getestet, bevor sie perspektivisch in Routineambulanzen eingesetzt werden können. Langfristig könnten Psychiater für jeden Patienten einen individuellen Zwilling erzeugen, der Behandlungsszenarien virtuell durchspielt und so unterstützt, Medikamente, Dosierungen und ergänzende Verfahren wie Hirnstimulation oder Psychotherapie gezielter auszuwählen.
Im Unterschied zu klassischen Risikomodellen, die Patienten grob in Hochrisiko- und Niedrigrisikogruppen einteilen, bildet ein digitaler Gehirnzwilling kontinuierliche Veränderungen über die Zeit ab. Mathematische Gleichungen beschreiben dabei, wie Aktivität von Nervenzellen in einem Netzwerk durch synaptische Verbindungen, Leitungsverzögerungen und externe Störungen beeinflusst wird. Diese Gleichungen werden mit Parametern gefüttert, die aus Messdaten abgeleitet sind, etwa der Stärke von Verbindungen zwischen Hirnarealen oder der Empfindlichkeit bestimmter Rezeptorsysteme für Botenstoffe. Auf dieser Grundlage lassen sich Szenarien berechnen, etwa wie sich die Dynamik des Systems verändert, wenn ein Antipsychotikum die Dopaminübertragung moduliert oder eine transkranielle Stimulation die Erregbarkeit eines Knotenpunkts senkt. Der digitale Gehirnzwilling wird damit zu einem Werkzeug, das Hypothesen über Krankheitsmechanismen experimentell prüfbar macht und gleichzeitig konkrete, patientenbezogene Vorhersagen zur Wahrscheinlichkeit einer Frühdiagnose Psychose erzeugen kann.
Die Basis jedes Gehirnzwillings bilden detaillierte Bildgebungsdaten, typischerweise ein hochaufgelöster MRT Hirnscan kombiniert mit weiteren strukturellen und funktionellen Sequenzen. Aus diesen Daten werden anatomische Karten abgeleitet, die festlegen, welche Hirnareale als Knoten im Modell fungieren und wie stark sie durch Faserbahnen miteinander verbunden sind. Ergänzend fließen funktionelle Messungen wie Ruheaktivität, kognitive Aufgabenparadigmen und EEG-Signale ein, die Rückschlüsse auf Oszillationen und Synchronisationsmuster in verschiedenen Frequenzbändern erlauben. Blutwerte und genetische Profile liefern Informationen über Entzündungsprozesse, Stoffwechselwege und Risiko-Varianten, die mit Schizophrenie assoziiert sind. Spezialisierte Algorithmen wie die am Max-Planck-Institut entwickelte NeuroMiner Software extrahieren aus diesen hochdimensionalen Datensätzen Merkmalsmuster, die mit individuellen Verläufen und Therapieantworten verknüpft sind, und stellen sie als Parameter für virtuelle Hirnmodelle bereit. Dadurch entsteht ein mehrschichtiges Profil, das von der molekularen Ebene über Zellverbände bis zu großräumigen Netzwerken reicht und eine personalisierte Therapie rechnerisch abbildbar macht.
Um die Modelle zu kalibrieren, werden tausende Datensätze von Patienten mit unterschiedlichen Schweregraden der Erkrankung sowie Kontrollpersonen herangezogen. Künstliche Intelligenz identifiziert dabei hochdimensionale Muster, die sich über viele Hirnregionen, Frequenzbänder und klinische Variablen erstrecken und von der menschlichen Wahrnehmung kaum erfassbar wären. In Studien konnten Deep-Learning-Ansätze auf dreidimensionalen MRT-Daten eine nahezu perfekte Trennschärfe zwischen Schizophrenie und gesunden Kontrollen erreichen, mit Flächen unter der ROC-Kurve nahe 0,99. Solche Modelle dienen im Kontext des Gehirnzwillings als Bausteine, um aus neuen Messungen jene Kombination von Parametern zu rekonstruieren, die am ehesten zum beobachteten Datenmuster passt. Im Ergebnis entsteht eine Familie plausibler Modelle für den individuellen Patienten, deren Vorhersagen über Symptomverlauf, Rückfallrisiko und zu erwartende Nebenwirkungen anschließend statistisch zusammengeführt werden. Dies erlaubt es, Unsicherheiten explizit zu quantifizieren und nicht nur eine Punktprognose, sondern Wahrscheinlichkeitsintervalle für verschiedene klinische Szenarien zu liefern.
Gerade in den frühen Phasen einer beginnenden Psychose kann ein digitaler Gehirnzwilling einen entscheidenden Informationsvorsprung bieten. Viele Betroffene durchlaufen zunächst ein sogenanntes Prodromalstadium mit unspezifischen Symptomen, in dem sich im Gehirn bereits messbare Struktur- und Funktionsveränderungen abzeichnen. Metaanalysen zeigen, dass individualisierte Prognosemodelle auf Basis von Bildgebung, Neurokognition und klinischen Daten bei Risikopersonen Übergänge in eine manifeste Psychose mit einer balancierten Genauigkeit um 70 bis 80 Prozent vorhersagen können. Hintergrundinformationen zur Vielfalt der Störung finden sich etwa im Themenüberblick zu Schizophrenie. Ein Gehirnzwilling erweitert diesen Ansatz, indem er nicht nur ein statisches Risikourteil liefert, sondern die Dynamik des Netzwerks im Zeitverlauf simuliert und mit verschiedenen Belastungsszenarien konfrontiert. So lässt sich berechnen, wie empfindlich das System auf zusätzlichen Stress, Schlafentzug oder Drogenkonsum reagiert und ab welchem Parameterbereich kompensatorische Mechanismen zusammenbrechen. Die Simulation macht damit explizit, welche Kombination aus biologischen und Umweltfaktoren das individuelle Risiko einer Schizophrenie besonders stark erhöht und welche Interventionen den Verlauf rechnerisch stabilisieren könnten.
Dass solche individualisierten Prognosen grundsätzlich machbar sind, zeigen Langzeitstudien mit mehreren hundert Patienten, in denen maschinelles Lernen drei- und sechsjährige Verläufe von Psychosen anhand von Basisdaten vorhersagen konnte. In einer großen multizentrischen Kohorte wurden beispielsweise soziale Funktionsfähigkeit und Symptomlast über bis zu sechs Jahre modelliert, wobei Modelle mit kombinierten neurokognitiven und bildgebenden Merkmalen deutlich besser abschnitten als rein klinische Prädiktoren, wie eine Arbeit in NPJ schizophrenia zeigt. Der digitale Gehirnzwilling knüpft an diese Arbeiten an, geht aber einen Schritt weiter, indem er die Wirkung konkreter Behandlungsentscheidungen in die Prognose integriert. So lassen sich Szenarien vergleichen, in denen etwa ein Antipsychotikum früh in niedriger Dosis, später in höherer Dosis oder gar nicht eingesetzt wird, und es kann abgeschätzt werden, mit welcher Wahrscheinlichkeit Funktionseinbußen verhindert oder Rückfälle reduziert werden. Besonders relevant ist dies, weil viele gängige Antipsychotika nur bei etwa 30 Prozent der Patienten eine ausreichende Wirkung zeigen und ansonsten aufwendig durchprobiert werden müssen, was wertvolle Zeit und Lebensqualität kostet.
Für die Praxis bedeutet dies, dass sich klassische Risikofaktoren wie genetische Belastung, frühkindliche Entwicklungsstörungen oder problematischer Cannabiskonsum in ein fein aufgelöstes, dynamisches Risikoprofil übersetzen lassen. Ein Gehirnzwilling kann etwa abbilden, wie stark sich zusätzliche Belastungen in der Adoleszenz auf die Stabilität bestimmter Netzwerkknoten auswirken und wie früh Warnsignale in Hirnscans oder kognitiven Tests sichtbar werden. Ergänzt durch kontinuierliche digitale Marker, etwa aus Sprachanalysen oder Smartphone-Sensorik, entsteht so ein Bild, in dem Symptome nicht mehr isoliert, sondern als Ausdruck eines gestörten Gesamtzustands verstanden werden. Erste Ansätze, bei denen Künstliche Intelligenz allein aus Sprachmustern Schizophrenie erkennt, wurden bereits in einem Beitrag zu sprachbasierter Diagnostik erläutert. Für Patienten mit Schizophrenie eröffnet dies die Perspektive, Rückfälle und Hospitalisierungen präventiver zu verhindern und Therapien weniger nach Versuch und Irrtum, sondern datenbasiert und transparent zu gestalten. Gleichzeitig bleibt die klinische Erfahrung unverzichtbar, um mathematische Vorhersagen in den Kontext individueller Lebensumstände, Widerstandsressourcen und Präferenzen einzuordnen.
Die Konstruktion eines Gehirnzwillings berührt jedoch auch sensible ethische Fragen, weil sie intime Daten über Biografie, Genom und Hirnarchitektur eines Menschen bündelt. Schon die Erhebung großer Datenmengen aus MRT, EEG, Blut und Genetik erfordert strenge Datenschutzkonzepte, transparente Einwilligungsprozesse und klare Regeln für Zugriffsrechte in Forschung und Klinik. Hinzu kommt, dass KI-Modelle systematische Verzerrungen enthalten können, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen in Trainingsdatensätzen unterrepräsentiert sind, was zu ungenauen oder unfairen Vorhersagen für diese Gruppen führen würde. Spezielle Teilprojekte in der Ethikforschung analysieren deshalb, wie sich Begriffe wie Krankheit, Risiko und Verantwortlichkeit verändern, wenn psychische Störungen zunehmend über Wahrscheinlichkeiten und Modellverhalten definiert werden. Diskutiert wird beispielsweise, ob ein hohes modelliertes Risiko eine stärkere Überwachung rechtfertigt oder ob Patienten ein Recht haben, bestimmte Risikoprognosen nicht zu erfahren, um ihre Autonomie zu schützen.
Aus klinischer Sicht steht der Gehirnzwilling derzeit an der Schwelle zwischen Forschungsinstrument und zukünftiger Routinemethode. Noch werden Modelle in Pilotstudien mit begrenzten Patientenzahlen getestet, und ihre Vorhersagekraft liegt deutlich unter hundert Prozent, weil zentrale Mechanismen der Schizophrenie wissenschaftlich weiterhin ungeklärt sind. Frühestens in den kommenden Jahren ist mit ersten regulierten Anwendungen in spezialisierten Zentren zu rechnen, in denen virtuelle Hirnmodelle behandelnde Teams bei komplexen Therapieentscheidungen ergänzen. Entscheidende Faktoren für eine breite Implementierung werden robuste Validierungsstudien, transparente Qualitätsstandards, eine praxisnahe Einbindung in klinische Abläufe und nachvollziehbare Visualisierungen für Ärzte und Patienten sein. Gelingt dieser Transfer, könnte der digitale Gehirnzwilling langfristig zu einem Standardwerkzeug der Präzisionspsychiatrie werden, das die Versorgung von Menschen mit Schizophrenie vom ersten Verdacht bis zur Langzeitbetreuung begleitet, ohne die ärztliche Einschätzung zu ersetzen.
NPJ schizophrenia, Individualized prediction of three- and six-year outcomes of psychosis in a longitudinal multicenter study: a machine learning approach; doi:10.1038/s41537-021-00162-3
Schizophrenia Research, Prediction of outcome in the psychosis prodrome using neuroanatomical pattern classification; doi:10.1016/j.schres.2015.03.005