Dennis L.
Seit einigen Jahren rückt ein unscheinbarer Schimmelpilz aus dem zerstörten Reaktor von Tschernobyl in den Fokus der Strahlenbiologie. Schwarze Beläge dieses Tschernobyl Pilz bedecken Beton und Metall, obwohl dort Radioaktivität herrscht, die für Menschen langfristig lebensgefährlich wäre. Laborversuche zeigen, dass der Pilz unter Ionisierende Strahlung sein Wachstumsmuster verändert und sein Melanin andere elektronische Eigenschaften annimmt als ohne Bestrahlung. Erste Messungen deuten darauf hin, dass radiotrophe Pilze einen Teil der Strahlungsenergie in biochemische Prozesse einspeisen könnten, doch wie effizient das geschieht, ist noch offen. Neue Experimente am Boden und im All sollen klären, ob der Pilz sich tatsächlich ein Stück weit von Strahlung „ernährt“ oder vor allem besser mit ihr zurechtkommt als andere Mikroorganismen.
In der Biologie ist es seit Langem bekannt, dass Leben ungewöhnliche Energiequellen nutzen kann: In den Tiefsee-Schloten speisen manche Bakterien ihren Stoffwechsel aus chemischen Gradienten, während andere Mikroorganismen in dunklen Höhlen von geologischen Reaktionen profitieren. Vor diesem Hintergrund wirkt die Beobachtung eines schwarzen Pilzes in der Reaktorruine von Tschernobyl wie eine nächste Eskalationsstufe extremen Überlebens. Dieser Pilz wächst in Bereichen, in denen die Radioaktivität über dem natürlichen Hintergrund liegt, und bildet dichte Schichten auf Bauteilen, die Jahrzehnte nach dem Unfall noch kontaminiert sind. Begriffe wie Radioaktivität und Strahlung stehen sonst für Zellschäden, Mutationen und Krebsrisiken, doch hier scheint ein Organismus gerade dort besonders aktiv zu sein, wo die Belastung hoch ist. Das hat den Verdacht aufkommen lassen, dass es radiotrophe Pilze geben könnte, die Strahlung nicht nur aushalten, sondern zumindest teilweise als Energiequelle in ihren Stoffwechsel einbinden.
Die Schlüsselrolle spielt dabei ein dunkel gefärbtes Pigment: Melanin. Es verleiht dem Pilz seine schwarze Farbe und ist in der Lage, Energie aus einem breiten Spektrum elektromagnetischer Strahlung aufzunehmen. In der Strahlenbiologie wird Melanin vor allem als Schutzschild diskutiert, das freie Radikale einfängt und so Zellen vor Schäden bewahrt. Bei radiotrophe Pilze taucht jedoch die zusätzliche Hypothese auf, dass dieses Pigment unter Ionisierende Strahlung seine elektronische Struktur so verändert, dass Elektronenflüsse angeregt und biochemische Reaktionen unterstützt werden. Damit würde der Pilz zumindest einen Teil der Energie, die sonst vor allem Schäden verursacht, funktional nutzen. Wie viel Energie tatsächlich in Wachstum und Stoffwechsel landet und wie viel in Reparaturprozesse oder Wärme, lässt sich bisher nur näherungsweise abschätzen. Klar ist aber, dass dieser Organismus wichtige Hinweise darauf liefert, wie Mikroorganismen auch in hoch verstrahlten Umgebungen stabil existieren können.
Ende der 1990er Jahre wurde die Mykobiota im Inneren des provisorischen Schutzbaus um Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl systematisch untersucht. Proben von Wänden, Metallstrukturen und anderen Oberflächen zeigten eine unerwartet dichte Besiedlung durch insgesamt 37 Pilzarten aus 19 Gattungen, darunter mehrere dunkel pigmentierte Formen. Besonders häufig waren Cladosporium sphaerospermum und einige weitere dematiacee Pilze, deren Zellen große Mengen Melanin in den Zellwänden enthalten. In Bereichen mit besonders hoher Radioaktivität dominierten diese melanisierten Pilze, während empfindlichere Arten eher in schwächer belasteten Zonen vorkamen. Diese Verteilung deutet darauf hin, dass der Tschernobyl Pilz und seine Verwandten nicht nur passiv in die verstrahlte Umgebung hineingetragen wurden, sondern sich dort gezielt etablieren und an die Strahlung anpassen konnten.
Zusätzliche Experimente mit Boden- und Gebäudepilzen aus der Sperrzone zeigten einen ausgeprägten Radiotropismus: Hyphen wuchsen bevorzugt in Richtung radioaktiver Quellen, selbst wenn zusätzliche Nährstoffe nicht dort konzentriert waren. In Bestrahlungsanlagen und in speziellen Versuchsaufbauten orientierten sich die Wachstumsfronten einiger radiotrophe Pilze zu Beta- und Gammastrahlern, was darauf hinweist, dass sie Strahlung als Signal wahrnehmen und auf sie reagieren. Gleichzeitig erwiesen sich die Pilze bei moderaten Dosen robuster als viele andere Mikroorganismen und überstanden wiederholte Bestrahlungszyklen mit vergleichsweise wenigen Schäden. Zusammen liefert dies das Bild eines Organismus, der sich in einer Umgebung mit hoher Radioaktivität nicht nur behauptet, sondern dort offenbar sogar einen ökologischen Vorteil hat. Wie eng dieser Vorteil an eine tatsächliche Nutzung der Strahlungsenergie gekoppelt ist, bleibt jedoch eine zentrale offene Frage der aktuellen Forschung.
Um diesen Mechanismus zu untersuchen, konzentrierten sich Laborstudien auf melaninreiche Mikroorganismen, darunter klassische Modellorganismen wie Cryptococcus neoformans und den in Tschernobyl identifizierten Cladosporium-Typ. In einer vielzitierten Arbeit wurde isoliertes Melanin gezielt mit Ionisierende Strahlung in Form von Gamma- und Röntgenstrahlen bestrahlt, während seine elektronischen Eigenschaften per Elektronenspinresonanz vermessen wurden. Das Ergebnis: Die Bestrahlung veränderte die ESR-Signale und erhöhte die Fähigkeit von Melanin, Elektronen auf Akzeptormoleküle zu übertragen, deutlich. Parallel dazu wuchsen melanisierte Hefen und Pilze unter dauerhafter Bestrahlung mit bis zu 500-facher Hintergrundstrahlung schneller und setzten Stoffwechselprodukte in höherer Rate um als nicht melanisierte Kontrollstämme. Diese Befunde stützen die Deutung, dass Melanin Strahlungsenergie aufnimmt und zumindest teilweise in chemische Energie überführt, was dem Wachstum radiotrophe Pilze zugutekommt.
Allerdings waren in diesen Experimenten stets klassische Nährstoffe vorhanden, sodass der Pilz nicht ausschließlich von Strahlung leben musste. Ein Teil des Effekts könnte daher darauf beruhen, dass Melanin die durch Ionisierende Strahlung erzeugten freien Radikale abfängt, die DNA-Reparatur entlastet und so mehr Energie für Wachstum und Erhaltungsstoffwechsel übrig lässt. Übersichtsarbeiten zu melaninbildenden Mikroorganismen zeigen, dass das Pigment in extremen Umgebungen häufig sowohl Schutzfunktion als auch eine Rolle bei der Energiebilanz übernimmt. Radiotrophe Pilze werden deshalb eher als Organismen verstanden, die Strahlung zusätzlich zu anderen Energiequellen nutzen, nicht als alleinige „Strahlungsfresser“. Die eigentliche Debatte dreht sich heute darum, wie hoch der Anteil der Strahlungsenergie an der Gesamtenergieversorgung ist und unter welchen Dosis- und Spektrumbedingungen dieser Anteil relevant wird.
Ein entscheidender Test für mögliche Anwendungen des Tschernobyl Pilz fand an Bord der Internationalen Raumstation statt. Dort wurde Cladosporium sphaerospermum in einer geteilten Petrischale kultiviert, unter der zwei identische Strahlungssensoren angebracht waren. Auf einer Seite wuchs der Pilz, auf der anderen befand sich nur Nährboden als Kontrolle. Über 30 Tage hinweg registrierten die Detektoren kontinuierlich die kosmische Strahlung, während die Pilzbiomasse fotografisch erfasst und ausgewertet wurde. Die Auswertung ergab, dass die Pilzkultur in der Mikrogravitation des Alls mit einer rund 1,21-fach höheren Wachstumsrate gegenüber der Bodenkontrolle zunahm. Gleichzeitig sank die gemessene Strahlendosis unter der etwa 1,7 Millimeter dicken Pilzschicht im Mittel um gut zwei Prozent im Vergleich zur Kontrollseite, was auf eine messbare Abschirmwirkung hinweist.
Hochrechnungen aus diesen Daten legen nahe, dass mehrere Zentimeter Pilzbiomasse eine deutlich stärkere Dämpfung erreichen könnten, insbesondere wenn der Pilz mit anderen Materialien kombiniert wird. Ein Ansatz sieht vor, Pilzmyzel mit Regolith oder anderen mineralischen Komponenten zu einem Verbundwerkstoff zu verbinden, der sowohl die strukturelle Stabilität als auch die Strahlungsabschirmung erhöht. Analysen zu radiotrophen Pilzen als Ressource für Raumfahrt und Schimmelpilze als Strahlenschutz verweisen darauf, dass sich solche Bioverbunde theoretisch vor Ort herstellen und selbst nachwachsen lassen könnten. Für Marsmissionen wären damit Marsmissionen denkbar, bei denen ein Teil des Strahlenschutzes auf lebender Biomasse basiert, die sich an das lokale Strahlungsumfeld anpasst. Noch ist allerdings offen, wie stabil solche Systeme über Jahre bleiben und wie sie auf Schwankungen im kosmischen Strahlungsfluss reagieren.
Die Forschung am Tschernobyl Pilz liefert nicht nur Anhaltspunkte für mögliche technische Anwendungen, sondern auch grundlegende Einsichten in die Anpassungsfähigkeit von Mikroorganismen. In chronisch verstrahlten Ökosystemen wirken Radioaktivität, Nährstoffverfügbarkeit und Konkurrenz zwischen Arten zusammen und formen spezialisierte Lebensgemeinschaften. Genom- und Transkriptomstudien zeigen, dass radiotrophe Pilze unter dauerhafter Belastung eine ganze Reihe von Genen für antioxidative Enzyme, Membranumbau und Reparaturmechanismen hochregulieren, während andere Stoffwechselwege angepasst werden. Gleichzeitig bleibt unklar, ob eine langfristige Nutzung der Strahlungsenergie zu spezifischen Mutationsmustern führt oder ob die durch Melanin vermittelte Dämpfung ausreicht, um genetische Schäden moderat zu halten. Dass es in Tschernobyl spezielle radiotrophe Pilze gibt, bedeutet nicht automatisch, dass ähnliche Strategien in allen belasteten Habitaten auftreten, doch es zeigt die Bandbreite möglicher biologischer Antworten auf Strahlung.
Aus heutiger Sicht ist der Tschernobyl Pilz damit weniger ein eindeutig „von Strahlung lebender“ Organismus als vielmehr ein Grenzfall, in dem mehrere Effekte zusammenkommen: Melanin schwächt Strahlung und schützt vor Schäden, unterstützt aber offenbar auch energetische Prozesse, die dem Pilz einen Vorsprung in extremer Umgebung verschaffen. Radiotrophe Pilze markieren so einen Übergangsbereich, in dem Strahlung nicht mehr ausschließlich als Bedrohung, sondern als zusätzlicher Umweltfaktor mit potenziellem Nutzen wirkt. Ob die gleiche Strategie künftig gezielt genutzt werden kann, um technische Anlagen oder Raumfahrzeuge vor Strahlung zu schützen, hängt davon ab, ob sich stabile, kontrollierbare Systeme entwickeln lassen, die sowohl die Anforderungen des Strahlenschutzes als auch der Biosicherheit erfüllen.
Mycological Research, Fungi from Chernobyl: Mycobiota of the inner regions of the containment structures of the damaged nuclear reactor; doi:10.1017/S0953756200002756
PLOS ONE, Ionizing Radiation Changes the Electronic Properties of Melanin and Enhances the Growth of Melanized Fungi; doi:10.1371/journal.pone.0000457