Robert Klatt
Menschen besitzen eine Fernfühlfähigkeit, die zuvor nur bei Vögeln bekannt war. Der Tastsinn ermöglicht es, verborgene Objekte zu spüren, ohne diese physikalisch zu berühren.
London (England). In der Biologie ging man bisher davon aus, dass der Tastsinn ein Nahsinn ist und nur bei direktem Kontakt funktioniert. Neue Studien zeigen nun, dass manche Vögel, darunter Strandläufer (Calidris) und Regenpfeifer (Charadriidae) einen sogenannten „Fernfühlsinn“ haben, mit dem Sie Beutetiere finden können, die sich unter dem Sand verstecken. Dies funktioniert, indem die Vögel minimale mechanische Signale erkennen, die durch den Sand übertragen werden, wenn in der Nähe Druckbewegungen entstehen.
Forscher der Queen Mary University of London (QMUL) haben nun eine Studie publiziert, laut der auch Menschen über das „Fernfühlen“ verfügen, also über eine Fähigkeit, mit der sie Objekte spüren können, ohne diese direkt zu berühren. In den Experimenten sollten die Probanden mit ihren Fingern leicht durch Sand streichen und einen versteckten Würfel finden, ohne diesen tatsächlich zu berühren. Sie erzielten dabei ähnliche Ergebnisse wie die Küstenvögel, obwohl Menschen nicht die speziellen Schnabelstrukturen besitzen, die den Tieren die Fernfühlfähigkeit geben.
„Es ist das erste Mal, dass Fernfühlen beim Menschen untersucht wurde und das verändert unsere Vorstellung davon, wie weit die Wahrnehmungsfelder in Lebewesen, auch beim Menschen, tatsächlich reichen“
Physikalische Modelle zeigen, dass Menschen über die Fernfühlfähigkeit verfügen, weil ihre Hände extrem kleinste Veränderungen erkennen können. Sie sind so sensibel, dass sie Reflektionen erkennen können, die von im Sand verborgenen Objekten durch minimale Bewegungen ausgelöst werden. Die Empfindlichkeit ist so hoch, dass sie nahe an der theoretischen Grenze liegt, bei der mechanische „Reflexionen“ in einem körnigen Material wie Sand überhaupt noch erfasst werden können.
In einem anschließenden Experiment haben die Forscher die Ergebnisse der Menschen mit einem Roboter mit einem taktilen Sensor, der mithilfe eines LSTM-Algorithmus (Long Short-Term Memory) trainiert wurde, verglichen. Die Menschen haben in diesem Experiment eine deutlich höhere Präzision (70,7 %) als der Roboter erreicht (40 %), dieser konnte die verborgenen Objekte aber aus etwas größerer Distanz erkennen. Laut den Wissenschaftlern zeigen die Ergebnisse eindeutig, dass Menschen tatsächlich Objekte erkennen können, ohne diese physisch zu berühren. Die Fähigkeit ist außergewöhnlich, weil der Tastsinn normalerweise nur bei direkten Berührungen funktioniert.
Wie die Forscher erklären, erweitert die Studie das Verständnis für den Tastsinn des Menschen stark und liefert quantitative Beweise für eine bislang unbekannte taktile Fähigkeit. Die neuen Daten können unter anderem bei der Weiterentwicklung von Assistenztechnologien und Sensorsystemen helfen und dabei als Referenzen dienen.
„Diese Entdeckung eröffnet neue Möglichkeiten für die Entwicklung von Werkzeugen und Assistenztechnologien, die den menschlichen Tastsinn erweitern. Die Erkenntnisse könnten zur Entwicklung fortschrittlicher Roboter beitragen, die empfindliche Aufgaben übernehmen – etwa archäologische Artefakte lokalisieren, ohne sie zu beschädigen, oder schwierige Gelände wie Marsboden oder Meeresgrund erforschen. Im weiteren Sinn ebnet diese Forschung den Weg für taktile Systeme, die verborgene oder gefährliche Umgebungen sicherer und effizienter erkunden.“
Laut den Wissenschaftlern ist es denkbar, dass das neue Wissen über den menschlichen Tastsinn dabei hilft, Roboter mit einer natürlichen, menschenähnlichen Sensibilität auszustatten. Diese könnten in verschiedenen Szenarien den Menschen unterstützen, etwa bei Ausgrabungsarbeiten.
„Besonders spannend ist, wie sich menschliche und robotische Forschung gegenseitig befruchtet haben. Die menschlichen Experimente gaben entscheidende Hinweise für das Lernmodell des Roboters, und dessen Ergebnisse lieferten wiederum neue Perspektiven auf die menschlichen Daten. Das zeigt, wie Psychologie, Robotik und künstliche Intelligenz gemeinsam grundlegende Entdeckungen und technische Innovationen ermöglichen können.“
Quellen:
Pressemitteilung der Queen Mary University of London (QMUL)
Studie im Fachmagazin IEEE International Conference on Development and Learning (ICDL), doi: 10.1109/ICDL63968.2025.11204359