Ungewöhnlich!

Tarrare der Allesesser aß lebende Tiere und Müll aus Neugier

(KI Symbolbild). In einer Taverne des späten 18. Jahrhunderts verschlingt der korpulenter Tarrare der Allesesser eine zappelnde Ratte, während Ärzte und Offiziere sein extremes Essverhalten aufmerksam beobachten. Die flackernden Kerzen werfen warmes Licht auf Berge aus Brot, Fleisch und Obst, die zeigen, dass selbst große Mengen Essbares seinen Hunger nicht stillen. Das Bild verdichtet die überlieferten Berichte über Tarrare zu einer Szene, in der Neugier, Ekel und wissenschaftliches Interesse unmittelbar aufeinanderprallen. )IKnessiW dnu gnuhcsroF(Foto: © 

Ein junger Mann mit scheinbar normaler Statur steht in einer Menschenmenge auf einem Jahrmarkt nahe Lyon, stopft sich rohe Fleischstücke, Äpfel und ganze Schluck Wasser hintereinander in den Mund und lässt einen Korb mit Obst in wenigen Minuten verschwinden. Die Zuschauer lachen, staunen und ekeln sich zugleich, während Tarrare noch nach mehr verlangt. Aus dem Gaukler, der lebende Tiere und Alltagsgegenstände verschlingt, wird wenig später ein französischer Soldat, der selbst mit vierfacher Ration ständig hungrig bleibt. Der Weg dieses Allesessers führt von der Bühne über das Lazarett bis in Spionageexperimente und macht ihn zu einer der rätselhaftesten Figuren der Medizingeschichte.

In den Berichten seiner Zeitgenossen taucht Tarrare zunächst nicht als Patient, sondern als Attraktion auf. Als junger Mann soll er bereits in der Lage gewesen sein, an einem einzigen Tag etwa ein Viertel eines Rinderviertels zu verzehren, ohne an Körpergewicht zuzulegen, und auf Jahrmärkten lockte er Zuschauer an, indem er eine ganze Korbfüllung Äpfel nacheinander verschluckte. Gleichzeitig war er von auffallend kleiner und schmaler Statur, mit rund 45 Kilogramm Körpergewicht, also weit entfernt von dem, was man bei einem Vielfraß erwarten würde. Statt kontrollierter Diäten oder medizinischer Betreuung prägten ihn Armut, Straßenleben und der Zwang, seine extreme Polyphagie irgendwie zu Geld zu machen. So entstand aus einem anonymen Jungen vom Land eine wandernde Sensation, die lebende Tiere und ungewöhnliche Essobjekte vor Publikum verarbeitete und damit schon früh das Bild des Allesessers prägte, das sich bis heute mit dem Namen Tarrare verbindet.

Als der Krieg der Ersten Koalition ausbricht, meldet sich Tarrare als französischer Soldat und bringt seine ungewöhnliche Essbiografie mit an die Front. Die üblichen Rationen reichen nicht aus, selbst als Ärzte ihm im Lazarett vierfache Portionen zuteilen, bleibt er hungrig, durchsucht Müllhaufen, kämpft mit Hunden um Essensreste und frisst sogar Verbände und Salben. Für die behandelnden Militärärzte wird er zur historischen Kuriosität: ein Mann mit unstillbarem Appetit, der trotzdem schlank bleibt, dessen Haut schlaff hängt, dessen Bauch sich nach einer Mahlzeit ballonartig aufbläht und dessen Verhalten schwer in bekannte Krankheitsbilder einzuordnen ist. Pierre-François Percy hält die Beobachtungen später ausführlich in seinem Mémoire sur la polyphagie fest, das Tarrare zum klassischen Fallbeispiel für extreme Polyphagie und gleichzeitig zum Ausgangspunkt einer langen Medizingeschichte über unstillbare Essstörungen macht.

Was Tarrare alles aß: Vom Jahrmarkt zum Lazarett

Die frühesten Beschreibungen zeichnen Tarrare als Straßenkünstler, der seine ungewöhnliche Essfähigkeit gezielt einsetzt, um Menschen anzulocken. In der Rolle eines warm-up-Acts für wandernde Scharlatane verschluckt er Steine, Korken und ganze Äpfel, lässt sich Körbe voller Obst reichen und leert sie in einem Zug, während das Publikum fassungslos mitzählt. In Paris tritt er als Straßenkünstler auf, bis eine missglückte Nummer zu einem Darmverschluss führt und er im Krankenhaus landet; schon damals bietet er seinem Chirurgen an, dessen Taschenuhr zu verschlucken, lässt aber davon ab, als dieser ankündigt, sie ihm notfalls wieder aus dem Bauch zu schneiden. Dieses Detail zeigt, dass der Allesesser durchaus Grenzen kennt und die Konsequenzen seines Verhaltens kalkuliert, auch wenn er auf der Bühne den Eindruck völliger Unerschrockenheit vermittelt. Seine ungewöhnliche Essbiografie ist damit von Beginn an eng mit dem Alltag einfacher Leute, prekären Lebensbedingungen und der ökonomischen Notwendigkeit verbunden, aus einer extremen Besonderheit ein Einkommen zu machen.

Im Militärhospital von Soultz verlagert sich die Bühne vom Jahrmarkt in den Untersuchungsraum. Ärzte nutzen Tarrare systematisch, um zu testen, welche Mengen er zu verschiedenen Zeiten aufnehmen kann, und dokumentieren Mahlzeiten, die eher an Experimente mit Laborratten als an normale Verpflegung erinnern. In einem Versuch verspeist er nacheinander eine Mahlzeit, die eigentlich für 15 Arbeiter vorgesehen wäre, darunter mehrere große Portionen Fleisch, Brot und Suppe; anschließend fällt er, so die Berichte, in einen schläfrigen, fast katatonen Zustand. In anderen Szenen lässt man ihn lebende Tiere verschlingen, darunter Katzen, Schlangen oder Eale, um seine ungewöhnliche Verträglichkeit von rohem Fleisch und ganzen Tieren zu demonstrieren. Besonders einprägsam ist die Schilderung, wie er einen Aal lebend hinunterschlingt, nachdem er ihn nur kurz mit den Zähnen gepackt hat. Die Ärzte interessieren sich kaum für seine Person, sondern vor allem für den Körper als Extremfall der Verdauung, während Tarrare weiterhin jeden angebotenen Bissen nutzt, um seinen unstillbaren Hunger zu lindern.

Ungewöhnliche Essgewohnheiten: Bizarre Speisen und drastische Experimente

Die medizinischen Berichte listen Tarrares ungewöhnliche Essgewohnheiten mit einer Nüchternheit auf, die im Kontrast zu den geschilderten Szenen steht. Zu seinem "normalen" Spektrum gehören neben großen Mengen gekochter Speisen rohes Fleisch, Innereien, Speisereste aus Abfallgruben, Teile von Tieren, die andere nicht verzehren würden, und allerlei unverdauliche Objekte wie Steine oder Korken. Im Lazarett wird er beobachtet, wie er die Küche nach Resten durchsucht, Blut von Patienten trinkt, die gerade zur Ader gelassen wurden, und sich im Seziersaal Leichenteile aneignet, sobald das Personal den Raum verlässt. Besonders heikel wird der Fall, als auf der Station ein Kleinkind verschwindet und der Verdacht auf Tarrare fällt, ohne dass sich der Vorwurf später eindeutig bestätigen oder widerlegen lässt. In den Aufzeichnungen erscheint er hier nicht mehr als Kuriosität, sondern als potenzielle Gefahr für seine Mitmenschen, weil sein Hunger offenbar jede soziale Grenze zu überschreiten droht.

Um sein Essverhalten zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf heutige Forschung zu Hyperphagie, also Zuständen, in denen das Hungergefühl nicht mehr in sinnvollem Verhältnis zur tatsächlichen Energieversorgung steht. Studien zu seltenen genetischen Erkrankungen wie dem Prader-Willi-Syndrom beschreiben Patienten, die ebenfalls eine extreme, kaum zu stillende Nahrungsaufnahme zeigen, während hormonelle Signale und neuronale Schaltkreise der Sättigung gestört sind. Hyperphagie ist dort definiert als pathologisch insatiabler Hunger mit anhaltendem, zwanghaftem Essverhalten, das wenig mit normaler Nahrungsaufnahme gemein hat. Für Tarrare lässt sich im Nachhinein keine exakte Diagnose stellen, doch die Parallelen zu solchen modernen Fallbeschreibungen unterstreichen, dass seine Rolle als Allesesser nicht nur eine Nummer, sondern Ausdruck eines tiefgreifenden biologischen Ungleichgewichts war.

Warum Tarrare immer alles probieren wollte

Bei Tarrare ist auffällig, dass sein Essverhalten aus drei Komponenten besteht: ein extrem starker innerer Hunger, der kaum kontrollierbar scheint, die äußere Notwendigkeit, überhaupt genügend Nahrung zu finden, und der bewusste Einsatz seiner Fähigkeiten als Showelement. Die medizinischen Beobachter beschreiben ihn als apathisch und geistig nicht auffällig, abgesehen von seiner Essstörung, gleichzeitig aber als bereitwillig und kooperativ, wenn es um neue Experimente geht. In den Lazarettprotokollen wirkt es, als sei er neugierig auf immer neue Reize und bereit, fast jede Herausforderung anzunehmen, solange sie ihm zusätzliche Nahrung verschafft. Dieser Mix aus innerem Druck und äußerer Inszenierung fügt sich zu einem Bild, in dem Tarrare sowohl Opfer einer extremen körperlichen Störung als auch aktiv handelnder Gaukler ist, der seinen Hunger zur Erwerbsquelle macht.

Moderne Forschung zur Appetitregulation zeigt, dass Hunger nicht nur von Kalorienmangel abhängt, sondern von komplexen Signalen aus Leber, Darm und Gehirn, die über Hormone und Nervenbahnen miteinander kommunizieren. Studien zu Leberbotenstoffen, die während Diäten Hungerattacken auslösen, und zu Darmbakterien, die das Verlangen nach Zucker modulieren, belegen, wie stark biochemische Prozesse das subjektive Essverlangen beeinflussen können. Entsprechende Mechanismen diskutiert etwa ein Forschungsprojekt zu einem neuen Hemmstoff gegen Hungerattacken oder Arbeiten über Darmmikrobiom und Essvorlieben, wie sie auf Hungerattacken und Appetitregulation und in Analysen zu Darmbakterien und Zuckerhunger zusammengefasst werden. Für Tarrare bedeutet das rückblickend: Seine Bereitschaft, alles zu probieren, dürfte nicht nur eine charakterliche Eigenheit gewesen sein, sondern das Ergebnis eines Körpers, dessen Hunger- und Sättigungssignale dauerhaft aus dem Gleichgewicht geraten waren.

Grenzfälle des Allesessers: Was selbst Tarrare nicht verschlang

So sehr die Berichte betonen, dass Tarrare fast alles aß, zeigen sie doch auch einzelne Punkte, an denen er stoppte oder zumindest zögerte. Das bekannteste Beispiel ist die Szene mit der Taschenuhr seines Pariser Chirurgen: Als er anbietet, die Uhr plus Kette hinunterzuschlucken, reagiert der Arzt nicht neugierig, sondern mit einer klaren Drohung, er werde ihn im Fall des Falles sofort aufschneiden, um das Objekt wiederzugewinnen. Tarrare lässt daraufhin von dem Vorhaben ab, was darauf hindeutet, dass sein Hunger zwar groß, seine Todesangst aber keineswegs ausgeschaltet ist. Auch spätere Berichte über eine angeblich verschluckte goldene Gabel, die er Jahre vor seinem Tod zu sich genommen haben will, bleiben vage; bei der Autopsie wird kein metallischer Fremdkörper gefunden, sodass unklar ist, ob hier Angeberei, Erinnerungslücke oder tatsächlich unauffällige Passage im Spiel war.

Wie bei vielen historischen Fällen ist es schwierig zu unterscheiden, welche Episoden auf direkten Beobachtungen und welche auf nachträglicher Ausschmückung beruhen. Zeitgenössische medizinische Texte konzentrieren sich auf beobachtbare Fakten wie Essmengen, Körperbau und Verdauungsbeschwerden, spätere populäre Darstellungen erweitern die Liste seiner angeblichen Mahlzeiten um immer drastischere Beispiele. Szenen, in denen Tarrare überlegt, Glas, Messer oder andere extrem gefährliche Gegenstände zu schlucken, finden sich eher in modernen Nacherzählungen als in den ursprünglichen Akten. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass er zwar ständig neue Grenzen testete, aber zumindest grob einschätzen konnte, welche Objekte ihn sofort töten würden und welche sein Körper vermutlich tolerieren konnte. Die wenigen belegbaren “Nicht-Mahlzeiten” in seiner Biografie erzählen damit eine zweite Geschichte: die eines Mannes, der trotz extremem innerem Druck situativ abwägt und unter bestimmten Drohungen oder Risiken zurückschreckt.

Spion, Patient, historische Kuriosität: Tarrare in Medizingeschichte und Kultur

Eine der bekanntesten Episoden im Leben des Allesessers ist seine kurzfristige Rolle als Spion. Militärärzte kommen auf die Idee, seine Polyphagie für geheime Nachrichten zu nutzen, lassen einen Holzzylinder mit Papierbotschaft präparieren und beobachten, wie Tarrare diesen verschluckt und nach der Ausscheidung wieder hervorbringt. Der französische Soldat wird daraufhin über den Rhein geschickt, um scheinbar als Bauer aufzutreten und die Botschaft hinter den Linien auszuspucken. Der Plan scheitert: Er wird festgenommen, gefoltert und schließlich wieder freigelassen, nachdem seine Nachricht als wertlos enttarnt ist. Zurück im Lazarett bittet er verzweifelt, nie wieder als Bote eingesetzt zu werden, und deutet damit an, dass seine Bereitschaft, alles zu probieren, nicht grenzenlos war, sobald das eigene Leben direkt auf dem Spiel stand.

Nach seinem Tod bleibt Tarrare lange vor allem in medizinischen und populärwissenschaftlichen Kompilationen über Anomalien präsent. Percy nutzt den Fall, um extreme Polyphagie gegenüber anderen Essstörungen abzugrenzen und Anatomie und Physiologie des Magen-Darm-Trakts zu diskutieren, während spätere Sammlungen medizinischer Kuriositäten ihn neben anderen Extremfällen wie Charles Domery aufführen. In jüngerer Zeit wird Tarrare zudem zur Figur in Opern, Theaterstücken und Puppenspielen; besonders das Projekt The Depraved Appetite of Tarrare the Freak und begleitende theaterwissenschaftliche Analysen thematisieren, wie man eine historische Figur darstellen kann, deren eigene Stimme kaum überliefert ist. Ein Beispiel ist der theaterwissenschaftliche Aufsatz über die Inszenierung von Tarrare im Kontext dokumentarischer Bühne, der seinen Weg von der klinischen Beobachtung zur Bühnenfigur nachzeichnet.

In dieser Verbindung von akribischer klinischer Beobachtung, drastischen Szenen mit lebenden Tieren und rohem Fleisch sowie späterer künstlerischer Verarbeitung spiegelt sich, warum Tarrare bis heute fasziniert. Er ist gleichzeitig historisches Dokument, medizinischer Extremfall, Spiegel damaliger Armut und Kriegsrealität und Projektionsfläche für moderne Fragen nach Identität, Körpernormen und der Grenze zwischen Mensch und “Monster”. Als historische Kuriosität fordert er dazu heraus, Essstörungen nicht nur über Kalorien und Diagnosen, sondern auch über die Lebensumstände, die Rolle von Öffentlichkeit und die Art und Weise zu denken, wie Gesellschaft mit Menschen umgeht, deren Verhalten weit außerhalb des Erwartbaren liegt.

Spannend & Interessant
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