Tierprozesse

Angeklagt: Tiere vor Gericht

(KI Symbolbild). In einem dicht besetzten Gerichtssaal steht ein Schwein auf der Anklagebank, während Richter, Schreiber und Anwalt es wie einen menschlichen Täter behandeln. Die Szene greift dokumentierte Tierprozesse Mittelalter auf, in denen Tiere vor Gericht tatsächlich verurteilt, verbannt oder freigesprochen wurden. Gerade die vertrauten Rituale der Strafjustiz lassen das Verfahren erstaunlich real wirken und verstärken den Effekt des Skurrilen. So wird sichtbar, wie eng Rechtsgeschichte Tiere, Aberglaube und Justiz damals miteinander verbunden waren. )IKnessiW dnu gnuhcsroF(Foto: © 

Ein Kind ist tot, der Dorfplatz voll, der Galgen vorbereitet. Doch vor dem Richter steht kein Mensch, sondern ein Schwein, flankiert von Gerichtsdienern und einem Schreiber, der die Anklage verliest. Für die Anwesenden des 15. Jahrhunderts ist das kein makabrer Witz, sondern ein ernstes Strafverfahren, bei dem über Schuld und Strafe entschieden wird. Aus heutiger Sicht wirkt es fast unwirklich, dass Tiere vor Gericht wirklich als Angeklagte geführt und am Ende gehängt, verbannt oder sogar freigesprochen wurden. Gerade dieser Kontrast zwischen vertrauter Gerichtsszene und völlig unerwartetem Angeklagten macht die überlieferten Fälle so faszinierend.

Wenn Historiker Prozessakten und Stadtrechnungen aus dem Spätmittelalter auswerten, tauchen darin immer wieder Szenen auf, die auf den ersten Blick wie aus einer Satire stammen. In der Normandie wird ein Schwein für den Tod eines Kindes gehängt, im burgundischen Savigny steht eine Sau mit sechs Ferkeln vor dem Richter, und im Rattenprozess von Autun versucht ein junger Jurist zu erklären, warum seine Mandanten wegen Katzengefahr nicht zur Verhandlung erscheinen können. Gleichzeitig berichten theologische und juristische Texte von Insekten vor Gericht, bei denen Weinvillen Käfer anklagen, die Reben kahl fressen. Eine früh einflussreiche juristische Auswertung dieser Fälle findet sich im Aufsatz The Prosecution and Punishment of Animals and Lifeless Things, der eine ganze Reihe solcher Prozesse systematisch beschreibt und in die damalige Rechtskultur einordnet. Zusammen ergeben diese Quellen das Bild einer Rechtsgeschichte Tiere, in der Schweine, Ratten und Insekten für sehr reale Schäden mit sehr realen Strafen bedacht wurden.

Was ist mit „Tiere vor Gericht“ konkret gemeint?

Unter Tiere vor Gericht verstehen Historiker heute ein Bündel von Verfahren, in denen nicht Menschen, sondern Tiere formal wie Angeklagte behandelt wurden. Die bekannten Fälle konzentrieren sich auf Europa zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert, vor allem auf ländliche Regionen Frankreichs, der Schweiz und einzelner Gebiete des Heiligen Römischen Reiches. Die Akten nennen vor allem Haus- und Nutztiere wie Schweine, Hunde, Rinder oder Esel, dazu als Kollektive Ratten, Mäuse und verschiedene Insekten. Typisch für Tierprozesse Mittelalter ist, dass der Ablauf erstaunlich vertraut wirkt: Es gibt eine schriftliche Anklage, eine Beschreibung der Tat, Zeugenaussagen, eine Beratung des Gerichts und ein schriftlich begründetes Urteil.

In den weltlichen Verfahren ging es meist um Totschlag oder schwere Verletzungen. Ein Schwein hatte ein Kind zerbissen, ein Stier einen Bauern zu Tode gestoßen. In den kirchlichen Verfahren richteten sich die Klagen gegen Schädlinge, die Felder oder Weinberge zerstörten. Die Tiere wurden dann in liturgisch aufgeladenen Akten verflucht, exkommuniziert oder auf ein Ersatzgebiet verwiesen. Die Symbolik der Tierprozesse war klar: Die Gemeinschaft zeigte öffentlich, dass sie auf ein scheinbar chaotisches Ereignis mit bekannten Formen der Justiz reagieren konnte. Gleichzeitig wirkten die Verfahren als Spektakel, das die Macht der Obrigkeit und der Kirche betonte, selbst gegenüber Wesen, die das Urteil nie verstehen konnten.

Schwein auf der Anklagebank: dokumentierte Prozesse gegen Schweine

Besonders gut dokumentiert sind Verfahren, bei denen ein einzelnes Schwein auf der Anklagebank stand. Ein häufig zitiertes Beispiel ist der Fall von Falaise in der Normandie im Jahr 1386, bei dem ein Schwein ein Kleinkind so schwer verletzte, dass es starb. Das Tier wurde festgenommen, in einen Kerker gebracht, vor Gericht gestellt und schließlich in Menschenkleidung an einem Galgen aufgehängt. Eine neuere philosophische Analyse interpretiert solche Fälle als ritualisierte Strafakte, die die Bevölkerung an die Durchsetzungskraft der Obrigkeit erinnern sollten; sie wird im Beitrag Casting Justice Before Swine detailliert dargestellt. Dass ein Schwein wie ein Mörder behandelt wurde, erscheint heute grotesk, entsprach damals aber der Logik einer Strafjustiz, die sichtbare, exemplarische Strafen in den Mittelpunkt stellte.

Ein zweiter prominenter Fall ist der Prozess von Savigny-sur-Étang aus dem Jahr 1457. Hier wurden eine Sau und sechs Ferkel beschuldigt, einen fünfjährigen Jungen getötet zu haben. Die Sau wurde nach Zeugenaussagen verurteilt und hingerichtet, die Ferkel jedoch freigesprochen, weil das Gericht ihre Beteiligung nicht sicher belegen konnte. Diese Szene eines Schwein auf der Anklagebank zeigt besonders eindrucksvoll, dass die Gerichte Unterschiede zwischen Täterschaft und bloßer Anwesenheit machten, obwohl das Verfahren einem Tier galt. Für heutige Leser wirkt gerade diese Kombination aus sorgfältiger Beweiswürdigung und völlig ungeeignetem Angeklagten verstörend. In der modernen Forschung steht dagegen eher die Frage im Vordergrund, wie empfindungsfähig Schweine sind und wie sich ihr Wohlbefinden messen lässt, etwa in Studien zur Lautanalyse, wie sie in dem Beitrag Künstliche Intelligenz erkennt Emotionen von Schweinen dargestellt werden.

Der Rattenprozess von Autun und andere Verfahren gegen Kleintiere

Noch eigentümlicher wirkt aus heutiger Sicht der Rattenprozess von Autun, der Anfang des 16. Jahrhunderts vor einem kirchlichen Gericht im Burgund stattfand. Die Ratten wurden beschuldigt, die Gerstenvorräte der Region zu zerstören, und erhielten eine formelle Ladung. Als sie der Aufforderung zur Gerichtsverhandlung erwartungsgemäß nicht folgten, wurde der junge Jurist Bartholomé Chassenée als Verteidiger bestellt. Er argumentierte zunächst, die Ladung sei unwirksam, weil sie sich nicht eindeutig an alle betroffenen Ratten richte. Später machte er geltend, die Reise zum Gericht sei für seine Mandanten lebensgefährlich, da überall Katzen lauerten. Eine anschauliche Nacherzählung dieser Episode bietet der Essay Animals on Trial, der zeigt, wie Chassenée mit prozessualen Feinheiten spielte, um die Ratten vor einem Versäumnisurteil zu schützen.

Der Rattenprozess von Autun ist deshalb zentral für die Rechtsgeschichte Tiere, weil hier die Logik der Gerichtsverhandlung so sichtbar auf ein völlig ungeeignetes Objekt übertragen wird. Ein Rattenprozess von Autun folgt denselben Formeln wie ein Streit zwischen zwei menschlichen Parteien: Es gibt Ladungsfristen, Zustellungsfragen und Diskussionen über Reisekosten. Dass der Angeklagte eine schwer fassbare Rattenschar ist, wird prozedural fast nebenbei behandelt. Gerade hierin liegt die eigentliche Absurdität. Für die Gemeinde bot der Prozess die Möglichkeit, ein diffuses Problem – leere Speicher und beschädigte Felder – in eine vertraute Form zu gießen. Für den Verteidiger war er eine Gelegenheit, juristische Kunstgriffe vor Publikum einzusetzen, was seiner späteren Karriere in der Justiz sicher nicht schadete.

Insekten vor Gericht: Weevils in den Weinbergen von Saint-Julien

Während Prozesse gegen einzelne Säugetiere relativ selten waren, sind kirchliche Verfahren gegen Insekten vor Gericht in den Quellen mehrfach belegt. Besonders bekannt ist der Fall von Saint-Julien in der Rhône-Alpes-Region, wo im 16. Jahrhundert eine Art Rüsselkäfer angeklagt wurde, weil sie Weinreben zerstörte. Die Winzer brachten ihre Klage vor ein kirchliches Gericht, das einen langwierigen Prozess eröffnete. Nach den Berichten eines modernen Literatur- und Rechtswissenschaftlers wurden den Käfern in den Verhandlungen nicht nur die Schäden vorgeworfen, sondern ihnen schließlich auch ein eigenes Ersatzgebiet zugesprochen. Eine Zusammenfassung dieser Ereignisse findet sich in einem Beitrag über die Insektenprozesse von St. Julien, der in einem Sammelband zur Mensch-Tier-Beziehung erschienen ist und online als Kapitel Trial of Insects from St. Julien verfügbar ist.

Solche Fälle zeigen, wie eng Aberglaube und Justiz in kirchlichen Kontexten miteinander verbunden waren. Das Gericht verhandelte, als handle es mit einem menschlichen Kollektiv, obwohl allen Beteiligten klar war, dass die Käfer keine Anweisungen verstehen konnten. Dennoch wurden Fristen gesetzt, Bannformeln gesprochen und ein Ersatzgebiet definiert, das die Tiere angeblich beziehen sollten. Diese Symbolik der Tierprozesse sollte die Gemeinde beruhigen: Man hatte sichtbar etwas gegen die Plage unternommen, jenseits von rein praktischen Maßnahmen wie dem Absammeln der Reben. Gleichzeitig machte das Verfahren deutlich, dass auch Naturereignisse in eine moralische Ordnung eingebunden wurden. Moderner Biologie ist dagegen eher daran interessiert, wie Insekten auf Umweltreize reagieren oder wie sich Schädlingsdruck langfristig mit ökologischen Methoden senken lässt, ohne Prozesse zu führen.

Warum diese Verfahren heute so befremdlich wirken

Dass Tiere vor Gericht aus heutiger Sicht so bizarr wirken, hat viel mit veränderten Vorstellungen von Verantwortung zu tun. Moderne Strafrechtsordnungen knüpfen Schuld an Einsicht und Steuerungsfähigkeit, weshalb nur Menschen oder juristische Personen als Täter gelten. Im Mittelalter wurde diese Trennlinie unschärfer gezogen. Tiere konnten zwar keine komplexen Normen verstehen, galten aber als Wesen, die Schaden zufügen und dafür sichtbar bestraft werden konnten. Aberglaube und Justiz verschmolzen so zu einem Instrument, mit dem Gemeinschaften auf Angst, Trauer und Kontrollverlust reagierten. Überliefert sind Verurteilungen, Verbannungen und auch Freisprüche; dass Tiere freigesprochen wurden, macht die Verfahren noch irritierender, weil sie zeigt, dass Gerichte tatsächlich zwischen verschiedenen Graden vermeintlicher „Beteiligung“ unterschieden.

Die Gegenwart kennt einen anderen Blick. Forschung zu Kognition und Emotion bei Tieren fragt heute, wie eng Tiere Menschen in ihren geistigen Fähigkeiten kommen, statt ihnen strafrechtliche Schuld zuzuweisen. Das gilt etwa für Hunde, deren geistige Leistungsfähigkeit mit der von Kleinkindern verglichen wird, wie in der Auswertung verschiedener Studien in Hunde besitzen die Intelligenz kleiner Kinder beschrieben wird. Zugleich zeigt der Vergleich mit anderen historischen Phänomenen wie der organisierten Hexenverfolgung, die im Beitrag Buchdruck hat Hexenverfolgung in Europa gefördert analysiert wird, wie leicht sich religiöse Deutungen, soziale Spannungen und juristische Macht in harten Sanktionen gegen als bedrohlich empfundene Wesen bündeln lassen. Gerade deshalb lohnt der Blick auf Tiere vor Gericht als Spiegel, der zeigt, wie sehr sich Strafrecht, Weltbild und Umgang mit Tieren im Lauf der Zeit verändert haben.

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