Teilchenphysik

Neutrino ist zu leicht für viele kosmologische Modelle

 Dennis L.

(KI Symbolbild). Im Inneren einer riesigen Vakuumröhre analysieren Forscher Elektronen aus dem Tritium-Betazerfall, um die Masse des Neutrino einzugrenzen. Präzise Magnetfelder lenken die Teilchen in ein hochauflösendes Spektrometer. Jede minimale Abweichung im Energiespektrum liefert Hinweise auf das Gewicht der Geisterteilchen. So verbindet das Experiment Laborphysik mit Fragen nach der Entwicklung des gesamten Universums. )IKnessiW dnu gnuhcsroF(Foto: © 
Auf den Punkt gebracht
  • Winzige Neutrinos beeinflussen mit ihrer Masse das ganze Universum
  • Eine gigantische Vakuumröhre macht unsichtbare Teilchen messbar
  • Neue Daten testen präzise kosmologische und Teilchenphysik Modelle

Neutrinos durchströmen fortwährend die Erde, doch ihre Neutrinomasse ist so gering, dass selbst modernste Detektoren nur Obergrenzen angeben können. Beim Tritium-Betazerfall im Karlsruher KATRIN Experiment wird der Energieschwund der Elektronen mit einer Auflösung von etwa 1 eV nahe dem Endpunkt von 18,6 keV verfolgt. Aus der feinen Form des Spektrums entsteht ein direktes Laborlimit für das Gewicht der Geisterteilchen. Die aktuellen Daten verdichten das Bild, ohne den exakten Wert zu verraten, und verschieben damit die Grenze zwischen etablierter Teilchenphysik und möglichen neuen Bausteinen des Standardmodells.

Die meisten Materieteilchen im Universum bleiben selbst in hochpräzisen Laboren gut greifbar: Elektronen, Protonen oder Atomkerne hinterlassen Spuren in Detektoren, tragen eindeutige Ladungen und besitzen vergleichsweise große Massen. Neutrinos bilden dazu einen extremen Gegenpol. Als elektrisch neutrale Teilchen, die nur über die schwache Wechselwirkung und Gravitation mit ihrer Umgebung in Kontakt treten, durchqueren sie Lichtjahre aus Blei nahezu ungehindert. Pro Quadratzentimeter treffen pro Sekunde etwa 10¹¹ Neutrinos aus der Sonne auf die Erde, ohne wahrgenommen zu werden. Aus Neutrinooszillationen ist bekannt, dass Neutrinos nicht masselos sein können, doch diese Experimente liefern nur Differenzen der Quadrate der Neutrinomassen. Für viele Fragen der Teilchenphysik und Kosmologie – von der Stabilität des Standardmodells bis zur Strukturentwicklung im jungen Universum – ist jedoch die absolute Skala der Neutrinomasse entscheidend.

Genau hier setzt die direkte Massenbestimmung an, die auf einer einfachen Energiebetrachtung beruht. Beim Tritium-Betazerfall zerfällt ein Wasserstoffisotop in ein Helium-Ion, ein Elektron und ein Elektron-Antineutrino. Die frei werdende Energie von rund 18,6 keV verteilt sich zwischen Elektron und Neutrino. Ist die Neutrinomasse ungleich Null, fehlt den energetisch höchsten Elektronen ein minimaler Bruchteil an Energie. Statt einzelne Neutrinos zu wiegen, vermisst man also äußerst präzise das Ende des Elektronenspektrums. Diese Methode ist modellunabhängig und ergänzt kosmologische Analysen, die aus großräumigen Strukturdaten Summen der Neutrinomassen ableiten. In der Übersicht Neutrino werden verschiedene Beobachtungsansätze beschrieben, doch nur wenige Experimente erreichen derzeit die notwendige Empfindlichkeit im sub-Elektronvolt-Bereich.

Warum die Neutrinomasse so schwer zu fassen ist

Die Herausforderung bei der direkten Bestimmung der Neutrinomasse liegt in der extrem kleinen Wirkung auf das Elektronenspektrum. Nur rund ein Zehnbillionstel der Zerfälle spielt sich in dem Energiebereich ab, der für die Massenbestimmung relevant ist. Gleichzeitig muss die Energieauflösung im Bereich von etwa 1 eV oder besser liegen, um Unterschiede in der Größenordnung von Bruchteilen eines Elektronvolts sichtbar zu machen. Schon geringe Schwankungen der Tritiumquelle, minimale Restgase im Vakuum oder elektrische Störungen können das Spektrum in ähnlicher Weise verzerren wie eine kleine Neutrinomasse. Daher sind mehrere unabhängige Ansätze nötig, um systematische Effekte zu kontrollieren, etwa die genaue Kenntnis der Tritiumdichte, Temperaturstabilität und des elektromagnetischen Feldes entlang der gesamten Messstrecke. Zusätzlich erlaubt das Spektrum auch negative Schätzwerte für das Quadrat der Neutrinomasse, wenn statistische Fluktuationen dominieren, was die Interpretation der Daten weiter erschwert.

Das Karlsruher Tritium Neutrino Experiment KATRIN antwortet auf diese Probleme mit einer Kombination aus hoher Aktivität der Quelle, exakter Stabilisierung der Betriebsbedingungen und einem besonders großen Spektrometer. Durch die hohe Aktivität von etwa 10¹¹ Zerfällen pro Sekunde lassen sich in vertretbarer Zeit ausreichend Ereignisse nahe am Endpunkt sammeln. Gleichzeitig wird das Tritium in einem sogenannten Windowless Gaseous Tritium Source Abschnitt geführt, in dem Temperatur, Druck und Isotopenzusammensetzung kontinuierlich überwacht werden. Ein bis in den Millivoltbereich stabilisiertes Hochspannungssystem definiert die Analyseeinstellung des Spektrometers und ermöglicht es, das Spektrum Punkt für Punkt abzutasten. Frühere Messreihen, die bereits im Artikel Masse eines Neutrinos laut neuer Messung halbiert beschrieben wurden, erreichten erstmals ein sub-eV-Limit und bildeten die Grundlage für die jetzt vorliegenden, deutlich präziseren Daten.

Messprinzip des KATRIN Experiments

In der gesamten Aufbautenlinie von rund 70 Metern werden Quelle, Transport und Analyse der Elektronen strikt voneinander getrennt. Am Anfang steht der Tritium-Betazerfall, bei dem Elektronen in alle Raumrichtungen emittiert werden. Ein System aus supraleitenden Magneten sammelt diese Elektronen ein und führt sie entlang der Beamline durch Reinigungs- und Pumpsektionen, damit kein Tritium in das zentrale Spektrometer gelangt. Dort sorgt eine spezielle Kombination aus elektrostativer Retardierung und magnetischer Führung – das sogenannte MAC-E-Filter-Prinzip – dafür, dass nur Elektronen oberhalb einer einstellbaren Grenzenergie den Filter passieren. Der Detektor am Ende zählt dann lediglich jene Ereignisse, deren Energie nahe am Endpunkt liegt. Indem die Retardierspannung schrittweise verändert wird, entsteht ein integriertes Spektrum, aus dem die Neutrinomasse rekonstruiert werden kann.

  • Hohe Tritiumaktivität liefert genügend Zerfälle nahe dem Spektrumsendpunkt
  • Ein großvolumiges Spektrometer glättet Winkel- und Energieverteilungen der Elektronen
  • Präzise Hochspannungsstabilisierung reduziert Verschiebungen des gesamten Spektrums
  • Aufwendige Vakuumtechnik minimiert Hintergrund durch Restgase und radioaktive Verunreinigungen
  • Kalibrationsquellen erlauben die Überprüfung der Energieauflösung und der Feldgeometrie

Im Zentrum steht ein 200 Tonnen schweres Spektrometer, das als hochauflösendes elektrostatisches Filter arbeitet und eine Energieauflösung im Bereich von etwa 0,9 eV ermöglicht. In diesem Spektrometer wird die Rolle eines gigantischen Verstärkers übernommen: Kleine Unterschiede im Impuls der Elektronen werden durch die magnetische Adiabatik in messbare Energieunterschiede überführt. Gleichzeitig muss der Untergrund im Bereich von wenigen Zehntel Ereignissen pro Sekunde gehalten werden, damit zufällige Signale nicht die Form des Spektrums dominieren. Dazu tragen aktive und passive Abschirmungen ebenso bei wie spezielle Betriebsmodi, mit denen störende Elektronenquellen im Inneren des Spektrometers identifiziert und unterdrückt werden. Eine ausführliche Zusammenfassung der technischen Eckdaten und der aktuellen Messkampagnen findet sich in der offiziellen Darstellung KATRIN sets new limit for neutrino mass, die die Einbettung des Experiments in die internationale Astroteilchenphysik beschreibt.

Neues Oberlimit und statistische Unsicherheiten

Die aktuelle Auswertung kombiniert fünf Messkampagnen der Jahre 2019 bis 2021, in denen insgesamt etwa 36 Millionen Elektronen über 259 Messtage registriert wurden. Die Forscher passen ein detailliertes Spektrumsmodell an die gemessenen Raten an und erhalten daraus eine Schätzung für das Quadrat der effektiven Elektron-Antineutrinomasse. Aufgrund statistischer Fluktuationen kann dieser Wert auch leicht negativ ausfallen, was keine physikalisch negative Neutrinomasse bedeutet, sondern auf die endliche Datenmenge hinweist. Aus der Form des Vertrauensbereichs wird daher eine Obergrenze für die Neutrinomasse bei einem Konfidenzniveau von 90 Prozent abgeleitet. Die neue Auswertung führt zu mν größter als 0,45 eV, wobei die statistischen und systematischen Unsicherheiten gemeinsam berücksichtigt sind und das Ergebnis gegenüber der vorherigen Obergrenze von 0,8 eV nahezu um den Faktor zwei verschärfen. Die zugehörige Fachpublikation Direct neutrino-mass measurement based on 259 days of KATRIN data diskutiert im Detail die Fitstrategie und den Umgang mit Korrelationen.

Entscheidend ist, dass die Obergrenze der Masse nicht nur von der reinen Statistik abhängt, sondern auch von der Kontrolle systematischer Effekte. Dazu gehören etwa kleine Unsicherheiten im Endpunkt des Tritium-Betazerfalls, im Energieverlust der Elektronen im Tritiumgas oder in der Modellierung des Untergrunds. Für jede dieser Quellen werden eigene Messreihen und Simulationen durchgeführt, um ihren Einfluss zu quantifizieren und in die Gesamtunsicherheit einzugehen. Durch die höhere Statistik der neuen Datensätze rücken systematische Effekte stärker in den Vordergrund; die weitere Verbesserung der Neutrinomasse-Sensitivität wird daher vor allem von technischen Optimierungen und verfeinerten Analysen abhängen. Die Neutrinomasse nähert sich damit einem Bereich, in dem auch kosmologische Abschätzungen, die über Summen der Neutrinomassen auf Werte von einigen Zehntel eV schließen, direkt mit einem Laborergebnis verglichen werden können.

Kosmologische Folgen einer leichten Neutrinomasse

Neutrinos tragen trotz ihrer geringen Masse in der Summe zur Energiedichte des Universums bei, da sie in unvorstellbar großer Zahl vorhanden sind. Bereits eine Gesamtmasse von wenigen Zehntel eV pro Neutrinoart wirkt sich messbar auf die Bildung großräumiger Strukturen aus, etwa auf die Verteilung von Galaxien und die Feinstruktur der kosmischen Hintergrundstrahlung. Kosmologische Modelle, die die Summe der Neutrinomassen aus Beobachtungen ableiten, bevorzugen derzeit Werte deutlich unter 1 eV. Das neue Laborlimit von 0,45 eV für das Elektron-Antineutrino schränkt den Parameterraum dieser Modelle weiter ein und reduziert die Möglichkeit extremer Szenarien mit vergleichsweise schweren Neutrinos. Gleichzeitig bleibt die Frage offen, ob die Massenhierarchie normal oder invertiert ist, also ob die leichteste Neutrinosorte fast masselos ist oder ob alle drei Massen relativ eng beieinander liegen.

Für die Teilchenphysik ist die kleine, aber endliche Neutrinomasse ein klarer Hinweis auf Prozesse jenseits des Standardmodells. Mechanismen wie der See-Saw-Ansatz, bei dem schwere Partnerteilchen die beobachteten kleinen Massen erzeugen, lassen sich durch präzise Laborlimits besser eingrenzen. Je kleiner die experimentell zulässige Neutrinomasse wird, desto stärker müssen solche Erweiterungen der Theorie feinabgestimmt sein. Die Kombination aus direkter Messung, Neutrinooszillationsdaten und kosmologischen Modellen bildet daher ein dichtes Netz von Randbedingungen, in dem sich neue Physik nur noch in schmalen Korridoren verstecken kann. Langfristig sollen verbesserte Quellen, neuartige Spektrometer und ergänzende Experimente dazu beitragen, die Neutrinomasse nicht nur über eine Obergrenze der Masse, sondern als positiven Wert zu bestimmen und damit einen weiteren fundamentalen Parameter der Naturkonstantenliste zu schließen.

Science, Direct neutrino-mass measurement based on 259 days of data; doi:10.1126/science.adq9592
Nature Physics, Direct neutrino-mass measurement with sub-electronvolt sensitivity; doi:10.1038/s41567-021-01463-1

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