Nebenwirkungen und Co.

Marktzulassung bremst innovative Medizinprodukte in Europa

 Robert Klatt

Neuzulassung eines Medizinprodukts )moc.sotohptisopedffoknedoroG(Foto: © 

Strengere EU-Vorschriften verändern derzeit grundlegend, wie neue Medizinprodukte in Europa auf den Markt kommen. Was nach einem einfachen Genehmigungsstempel klingt, ist in Wahrheit ein komplexes System aus Risikoklassifizierung, Konformitätsbewertung und Überwachung nach dem Inverkehrbringen. Zwischen dem Anspruch auf größtmögliche Patientensicherheit, dem Druck zu Innovation und der wirtschaftlichen Planbarkeit für Hersteller entsteht dabei ein spürbarer Konflikt. Warum Übergangsfristen immer wieder verlängert werden und die Regeln zugleich strenger werden, lässt sich nur verstehen, wenn man die Logik dieser Marktzulassung genauer betrachtet.

Berlin (Deutschland). In europäischen Gesundheitssystemen sind Medizinprodukte allgegenwärtig, vom einfachen Pflaster über Blutzuckermessgeräte und Infusionspumpen bis hin zu anspruchsvollen Implantaten und Software, die Algorithmen zur Diagnoseunterstützung einsetzt. Jedes dieser Produkte beeinflusst Körperfunktionen, liefert Messwerte oder steuert Therapien und kann im Fehlerfall erheblichen Schaden verursachen.

Gleichzeitig sind Entwicklungszyklen kurz, Variantenvielfalt hoch und technische Innovationen drängen in immer kürzeren Abständen auf den Markt. Um diesen Gegensatz aus notwendiger Sicherheit und gewünschter Innovationsgeschwindigkeit zu adressieren, hat die Europäische Union die frühere Richtlinienlandschaft durch eine einheitliche Verordnung ersetzt. Die zentrale Rechtsgrundlage ist die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte, die die alten Richtlinien 93/42/EWG und 90/385/EWG ablöst und seit dem 26. Mai 2021 vollständig gilt, mit gestaffelten Übergangsfristen für bereits im Markt befindliche Produkte.

Laut dem Unternehmen MEDITEC Consulting GmbH ist es sprachlich vereinfacht, bei Medizinprodukten nur von der Marktzulassung zu sprechen, weil es im Unterschied zu Arzneimitteln kein zentrales europäisches Zulassungsamt gibt, das jede einzelne Produktvariante genehmigt. Stattdessen basiert das System auf Konformitätsbewertung, bei der der Hersteller für sein Produkt die Einhaltung umfassender Sicherheits- und Leistungsanforderungen nachweist und daraufhin das CE-Kennzeichen anbringt.

Je nach Risikoprofil wird dieser Prozess durch unabhängige Prüfstellen begleitet, die als Benannte Stellen fungieren. Gleichzeitig verlangt der regulatorische Rahmen, dass der Hersteller über den gesamten Lebenszyklus klinische Daten sammelt, Nebenwirkungen und Risiken überwacht und gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen einleitet. Für Patienten ist dieser komplexe Hintergrund kaum sichtbar, für Entwickler, Regulatorikexperten und Klinikpartner bestimmt er jedoch, ob ein Produkt überhaupt im Operationssaal, auf der Intensivstation oder in einer Gesundheits-App ankommt.

Vom Risiko zur Klasse: Wie Medizinprodukte eingeordnet werden

Der erste Schritt zur Marktzulassung eines neuen Medizinprodukts in Europa ist die korrekte Einordnung in eine Risikoklasse. Die EU MDR unterscheidet die Klassen I, IIa, IIb und III, wobei von Klasse I mit vergleichsweise geringem Risiko bis zu Klasse III mit hohem Risiko die regulatorischen Anforderungen systematisch zunehmen. Maßgeblich sind dabei Kriterien wie Invasivität, Dauer der Anwendung, betroffene Körperregion und die Frage, ob ein Produkt lebensunterstützende oder lebensrettende Funktionen übernimmt. Für Hersteller bedeutet das, dass schon kleine Änderungen im Design oder in der vorgesehenen Anwendung die Risikoklasse verändern können und damit den Umfang der technischen Dokumentation, der klinischen Daten und der erforderlichen Prüfungen beeinflussen. Speziell bei Software kann die Einstufung anspruchsvoll sein, weil dort nicht physische Risiken, sondern diagnostische oder therapeutische Fehlentscheidungen im Vordergrund stehen, die möglicherweise erst zeitversetzt sichtbar werden.

Die praktische Zuordnung erfolgt anhand detaillierter Klassifizierungsregeln im Anhang der Verordnung, die Anwendungskontext und Risikoszenarien systematisch durchdeklinieren. Ein nicht invasives Messgerät zur einmaligen Verwendung bleibt typischerweise in Klasse I, ein langzeitimplantierbarer Herzschrittmacher oder eine Prothese für die große Gelenkchirurgie fallen in Klasse III. Dazwischen liegen zahlreiche Zwischenstufen, etwa Infusionspumpen, bildgebende Geräte oder minimalinvasive Instrumente in den Klassen IIa und IIb.

Für Produkte an der Grenze zwischen Wellness, Lifestyle und Medizin, etwa Wearables mit Vitaldatenerfassung oder Apps mit Dosierungsvorschlägen, entscheidet die vom Hersteller deklarierte medizinische Zweckbestimmung, ob überhaupt von einem Medizinprodukt gesprochen wird. Diese Risikoklassen bilden die Grundlage dafür, welche Prüfpfade im weiteren Verlauf der Konformitätsbewertung zur Anwendung kommen, welche Benannten Stellen eingebunden werden müssen und wie umfangreich klinische Daten sein müssen, um einen robusten Sicherheits- und Leistungsnachweis zu erbringen.

Von der Idee zum CE-Zeichen: Schritte der Konformitätsbewertung

Die eigentliche Konformitätsbewertung verbindet regulatorische Anforderungen mit der technischen Entwicklung eines Medizinprodukts. Zunächst muss der Hersteller ein Qualitätsmanagementsystem etablieren, das Konstruktion, Produktion und Überwachung nach dem Inverkehrbringen strukturiert. Parallel dazu wird eine technische Dokumentation aufgebaut, die Werkstoffdaten, Risikoanalysen, Gebrauchsanweisungen, Softwarearchitekturen und Validierungsberichte umfasst.

Ab einer bestimmten Risikoklasse prüft eine Benannte Stelle diese Unterlagen, begutachtet das Qualitätsmanagementsystem und führt bei Bedarf Audits in der Produktion durch. Benannte Stellen sind von Mitgliedstaaten benannte Organisationen, die im Auftrag der EU die Einhaltung der rechtlichen Anforderungen anhand klar definierter Konformitätsbewertungen kontrollieren und über Zertifikate den Nachweis dokumentieren. Mit Inkrafttreten der EU-MDR wurden die Anforderungen an diese Institutionen deutlich verschärft, was dazu geführt hat, dass sich die Zahl der Benannten Stellen zunächst reduziert hat und erst nach und nach wieder steigt.

  • Systematische Risikoklassifizierung nach EU-MDR und Festlegung des passenden Konformitätsbewertungsverfahrens
  • Aufbau der technischen Dokumentation mit Risikomanagement, Gebrauchsanweisung, Validierungs- und Prüfberichten
  • Klinische Bewertung und, falls erforderlich, Planung und Durchführung einer klinischen Prüfung am Patienten
  • Audit des Qualitätsmanagementsystems und Produktbewertung durch eine Benannte Stelle mit Ausstellung von Zertifikaten
  • Anbringen des CE-Kennzeichens, Registrierung des Produkts und Vergabe einer eindeutigen Produktkennung (UDI)
  • Einrichtung von Prozessen für Post-Market-Surveillance, Meldesysteme für Vorkommnisse und regelmäßige Berichte

Nach erfolgreichem Abschluss der Konformitätsbewertung erstellt der Hersteller eine EU-Konformitätserklärung und bringt das CE-Zeichen sichtbar auf Produkt und Verpackung an, ergänzt um die Kennnummer der Benannten Stelle, sofern eine Beteiligung erforderlich war. Gleichzeitig muss das Produkt mit einer Unique Device Identification versehen werden, die Rückverfolgbarkeit bis auf Chargen- oder im Hochrisikobereich sogar Einzelebene ermöglicht. In vielen Fällen werden Geräte zusätzlich in nationale oder europäische Register eingetragen, etwa wenn Implantate oder hochriskante Systeme betroffen sind.

Für bereits etablierte Produkte, die noch unter der alten Richtlinie zertifiziert wurden, gelten Übergangsfristen, innerhalb derer sie nach den strengeren MDR-Regeln neu bewertet werden müssen. Diese Fristen sind in Reaktion auf Engpässe bei Benannten Stellen und drohende Versorgungsprobleme mehrfach verlängert worden und reichen je nach Risikoklasse inzwischen bis zum 31. Dezember 2027 für bestimmte Implantate der Klassen IIb und III und bis zum 31. Dezember 2028 für viele übrige höherklassige Produkte.

Klinische Daten und Überwachung im gesamten Lebenszyklus

Zentraler Kern der EU-MDR ist die Forderung nach belastbaren klinischen Daten, die zeigen, dass ein Medizinprodukt seinen Zweck erfüllt und dabei ein vertretbares Nutzen-Risiko-Verhältnis bietet. Für praktisch alle Produkte ist eine klinische Bewertung vorgeschrieben, die systematisch Daten aus Studien, Registern, Veröffentlichungen und realer Anwendung auswertet. Für Hochrisikoprodukte der Klasse III und viele implantierbare Geräte verlangt die Regulierung in der Regel eigene klinische Prüfungen, bei denen definierte Endpunkte, Sicherheitsparameter und statistische Auswertungen festgelegt werden müssen.

Die Anforderungen an Studiendesign, Ethikvotum, Meldung unerwünschter Ereignisse und die Einbindung von Patienten sind detailliert beschrieben und orientieren sich in vielen Punkten an Standards aus der Arzneimittelentwicklung, lassen aber mehr Spielraum für die Besonderheiten technischer Systeme. Aktuelle Analysen zeigen, dass insbesondere der Nachweis von Langzeitsicherheit und realer Wirksamkeit für viele etablierte Produkte deutlich aufwendiger geworden ist, was sich in zusätzlichen Studien, Registern und Post-Market-Clinical-Follow-up-Programmen niederschlägt.

Diese klinische Perspektive endet nicht mit dem ersten Inverkehrbringen, sondern setzt sich in einer kontinuierlichen Überwachung über den gesamten Lebenszyklus fort. Hersteller müssen systematisch Sicherheitsmeldungen aus Kliniken, Praxen und Patientenberichten sammeln, auswerten und bei Bedarf Korrekturmaßnahmen einleiten, die von der Aktualisierung von Gebrauchsanweisungen bis zum Rückruf reichen können. Eine zentrale Rolle soll dabei die europäische Datenbank EUDAMED spielen, die perspektivisch Informationen zu Herstellern, Produkten, Zertifikaten, klinischen Prüfungen, Vigilanzmeldungen und Marktüberwachung in sechs Modulen bündelt.

Teile dieser Datenbank sind bereits produktiv, andere befinden sich noch im Aufbau, was dazu führt, dass derzeit nationale Meldewege und europäische Übergangslösungen parallel existieren. Die langfristige Zielsetzung besteht darin, Transparenz für Behörden, Leistungserbringer und in Teilen auch für Patienten zu schaffen, damit Risiken schneller erkannt, Trends besser analysiert und regulatorische Entscheidungen nachvollziehbarer werden.

Engpässe, Übergangsfristen und die Zukunft der Marktzulassung

Die Kombination aus schärferen klinischen Anforderungen, aufwendigerer Konformitätsbewertung und begrenzten Kapazitäten bei Benannten Stellen hat in den letzten Jahren zu spürbaren Spannungen geführt. Fachgesellschaften und Krankenhäuser berichten von Verzögerungen bei Neuzulassungen, verkleinerten Sortimenten und in Einzelfällen Lieferengpässen bei bewährten Produkten, etwa spezialisierten Kathetern oder Nischenimplantaten.

In der öffentlichen Diskussion wurde dies als gefährlicher Mangel an wichtigen medizinischen Produkten beschrieben, weil Ersatzprodukte nicht immer sofort verfügbar sind oder andere Risikoprofile haben. Gleichzeitig warnen Analysen davor, die MDR vorschnell für alle Versorgungsprobleme verantwortlich zu machen, da globale Lieferketten, Rohstoffpreise und strategische Entscheidungen der Hersteller eine ebenso wichtige Rolle spielen. Die politisch beschlossenen Verlängerungen der Übergangsfristen bis Ende 2027 und 2028 sollen vor allem verhindern, dass gut eingeführte Produkte allein aus formalen Gründen vom Markt verschwinden, während Hersteller und Benannte Stellen die umfangreichen Dossiers aktualisieren.

Gleichzeitig steht die Marktzulassung von Medizinprodukten zunehmend vor der Herausforderung, mit neuartigen Technologien Schritt zu halten, die bei Erstellung der MDR nur bedingt antizipiert wurden. Dazu gehören vernetzte Implantate mit Remote-Updates, KI-basierte Diagnosesysteme und Gesundheits-Apps, die Therapieentscheidungen vorschlagen oder Eigenmedikation steuern. Forschungsarbeiten zeigen, dass für diese digitalen Innovationen häufig unklar ist, wie bestehende Regeln zu Cybersecurity, Datenqualität und klinischer Evidenz konkret anzuwenden sind und welche Nachweise im Rahmen der Konformitätsbewertung als ausreichend gelten.

Beispiele aus der Praxis, etwa ein Anti-Covid-19-Nasenspray mit umstrittener Evidenzbasis oder neuartige Produkte, die an der Grenze zwischen Lifestyle und Therapie angesiedelt sind, machen deutlich, wie sensibel das System auf unklare Datenlagen reagiert. Langfristig wird entscheidend sein, ob es gelingt, die Marktzulassung so weiterzuentwickeln, dass sowohl hohe Sicherheitsstandards als auch ein innovationsfreundliches Umfeld für neue Medizinprodukte erhalten bleiben und Engpässe vermieden werden.

Spannend & Interessant