Ernährungskrise

Hunger im Krankenhaus: Was niemand sehen will kostet Leben

 Dennis L.

(KI Symbolbild). Neue Evidenz zeigt, wie unterschätzte Mangelernährung Klinikverläufe verschlechtert und wie gezieltes Screening mit Ernährungstherapie echte Effekte erzielt. )kcotS ebodArefinadaL(Foto: © 
Auf den Punkt gebracht
  • Viele Patienten erreichen Kliniken bereits mit Nährstoffdefiziten
  • Fehlendes Screening lässt Risiken im Alltag unsichtbar werden
  • Gezielte Ernährungstherapie senkt Komplikationen und Sterblichkeit nachweislich

Neue Daten und Leitlinien befeuern eine Debatte, die lange unterschätzt wurde. Mangelernährung trifft nicht nur Hochbetagte oder Schwerkranke, sondern zieht sich quer durch viele Indikationen. Kliniken stehen vor der Aufgabe, Risiken früh zu erkennen und systematisch zu behandeln. Wie groß die Effekte gezielter Ernährung sind, zeigen robuste Studien und aktuelle Empfehlungen, die jetzt konkrete Schritte nahelegen.

Die Diskussion über Mangelernährung im Krankenhaus berührt ein Kernproblem moderner Medizin: Viele Patientinnen und Patienten kommen bereits mit reduzierten Reserven in die Klinik oder verlieren dort in kurzer Zeit weiter an Substanz. Akute Entzündungen, Appetitverlust, Schluckstörungen, Immobilität und Nebenwirkungen von Medikamenten verstärken einander, bis eine negative Spirale entsteht. Gewichtsabnahme allein erzählt die Geschichte nur unvollständig. Entscheidend ist die Körperzusammensetzung, also ob funktionell wichtige Muskelmasse verloren geht. Wer mit geringer Handkraft, reduzierter Magermasse und suboptimaler Eiweißzufuhr in eine Operation oder schwere Therapie startet, trägt ein erhöhtes Risiko für Infektionen, Wundheilungsstörungen, Delir, Stürze und verlängerte Liegezeiten. Damit wird Mangelernährung zu einem organisatorischen Thema: Sie beeinflusst Behandlungsqualität, Ressourcensteuerung und Patientensicherheit.

Gleichzeitig ist Mangelernährung tückisch, weil sie im Klinikalltag leicht übersehen wird. Routineprozesse fokussieren auf Diagnostik, Medikation und Prozeduren. Mahlzeiten, Essenszeiten und individuelle Bedürfnisse werden oft nachrangig koordiniert. Das ist verständlich, aber riskant. Klinische Teams benötigen deshalb einfache, zuverlässige und frühzeitige Instrumente, die Ernährungsrisiken sichtbar machen. Internationale Kriterien betonen, dass Screening bereits bei der Aufnahme beginnt und bei jedem klinischen Ereignis erneut geprüft wird. Das gelingt, wenn vier Elemente zusammenspielen: standardisierte Risikoerfassung, individualisierte Therapieziele, messbare Zwischenstadien und eine nahtlose Weiterversorgung nach der Entlassung. Entscheidend ist, dass Ernährung nicht als Nebenschauplatz betrachtet wird, sondern als integraler Bestandteil der Behandlung mit klaren Verantwortlichkeiten und dokumentierten Ergebnissen.

Versteckter Hunger in Kliniken, reale Folgen

Dass Mangelernährung klinische Verläufe messbar verschlechtert, belegt eine breite Evidenzlage. Besonders aussagekräftig sind randomisierte Studien, in denen Patientinnen und Patienten mit dokumentiertem Ernährungsrisiko eine individualisierte Versorgung erhalten. Dabei werden Energie- und Proteinziele festgelegt, Verträglichkeit überwacht, Mikronährstoffe berücksichtigt und der Fortschritt regelmäßig kontrolliert. In einer vielbeachteten Arbeit zeigte sich, dass strukturierte Ernährungstherapie schwerwiegende Komplikationen und die Sterblichkeit im Krankenhaus reduziert. Entscheidend war nicht die bloße Kalorienmenge, sondern die präzise Anpassung an die Situation der Betroffenen und das tägliche Nachsteuern. Der Befund ist klinisch relevant, weil er verdeutlicht, wie schnell sich metabolische Reserven erschöpfen können, wenn Entzündung, Immobilität und Therapien zusammenwirken. Die Studie erschien in The Lancet und setzte einen Maßstab für den praktischen Nutzen strukturierter Ernährungstherapie.

Die Konsequenzen im Versorgungsalltag reichen über den stationären Aufenthalt hinaus. Nach Entlassung reißt die Versorgung oft ab, obwohl viele Patientinnen und Patienten weiterhin ein Risiko tragen. Wer im Krankenhaus schwer erkrankt war, hat häufig weniger Appetit, geringere Belastbarkeit und bleibt auf Hilfsmittel angewiesen. Ohne gezielte Unterstützung fällt die Nahrungsaufnahme in den ersten Wochen zu Hause oft zu gering aus. Damit gehen Effekte aus dem stationären Setting rasch verloren, wenn keine Anschlussmaßnahmen vereinbart sind. Für Kliniken ist es daher sinnvoll, den Therapiepfad bis in die ambulante Phase mitzudenken. Ernährungspläne, die klare Ziele setzen, Hausärztinnen und Hausärzte einbinden und Hilfsmittel wie Trinknahrung oder Sondenernährung abgestimmt vorsehen, können das Risiko für erneute Einweisungen senken. Die Botschaft aus der Forschung ist eindeutig: Wenn Ernährung als therapeutische Intervention professionell organisiert wird, verbessert sich die Patientensicherheit spürbar.

Früh erkannt, gezielt behandelt

Der erste Schritt ist ein standardisiertes Screening bei der Aufnahme. Geeignete Instrumente erfassen ungewollten Gewichtsverlust, niedrigen Body-Mass-Index im Kontext des Alters, reduzierte Nahrungsaufnahme und klinische Faktoren wie Entzündungszeichen. Ergänzend liefern Handkraftmessungen und bioelektrische Impedanzanalyse Hinweise auf eine verminderte fettfreie Masse. Wer im Screening auffällig ist, erhält eine strukturierte Diagnostik mit klaren Zielen für Energie und Protein. Wichtig ist eine ausreichende Proteinzufuhr, die Erhalt oder Aufbau der Muskelmasse unterstützt. Die tägliche Anpassung an Toleranz, Krankheitsphase und Laborwerte verhindert Unter- wie Überversorgung. Auch Mikronährstoffe verdienen Beachtung, vor allem bei chronischen Erkrankungen, gastrointestinalen Problemen oder Polypharmazie. So wird aus Ernährung eine planbare Therapie mit überprüfbaren Ergebnissen, die nicht im Küchenplan endet, sondern in der Visite beginnt.

Aktuelle Leitlinien beschreiben die dafür nötigen Strukturen und Prozesse detailliert. Sie empfehlen feste Verantwortlichkeiten, interdisziplinäre Ernährungsteams, Dokumentationsstandards, Qualitätsindikatoren und klare Übergaben in die Nachsorge. Für ältere Patientinnen und Patienten, die ein besonders hohes Risiko tragen, formulieren sie evidenzbasierte Empfehlungen zur Prävention und Therapie inklusive Hydrierungsstrategien, Schluckmanagement und geeigneten Darreichungsformen. Kliniken profitieren, wenn sie Empfehlungen in verbindliche Standards überführen und die Umsetzung auditieren. So wird aus Einzelinitiative ein belastbares System. Eine umfassende und aktuelle Übersicht der Empfehlungen liefert die DGEM S3-Leitlinie, die konkrete Handlungsanweisungen für Screening, Diagnostik und Therapie formuliert. Wer sie konsequent anwendet, macht Patientensicherheit messbar und verankert Ernährungstherapie als Regelversorgung.

Strukturen, die Mangelernährung begünstigen

Warum wird Mangelernährung trotz bekannter Risiken übersehen. Ein Grund liegt in fragmentierten Verantwortlichkeiten. Küche, Pflege, ärztliche Dienste, Logopädie und Ernährungsberatung arbeiten oft parallel, aber nicht immer verzahnt. Wenn Essenszeiten nicht mit Untersuchungen abgestimmt sind, bleiben Tabletts unberührt. Wenn niemand dokumentiert, wie viel tatsächlich gegessen wurde, bleibt ein Rückgang unsichtbar. Wenn die Visite keine Ernährungsziele überprüft, fehlt der Korrekturmechanismus. Hinzu kommen Personalengpässe, die wenig Raum für individuelle Unterstützung lassen, etwa beim Schälen, Schneiden oder Anreichen von Speisen. Auch die Gestaltung des Umfelds spielt eine Rolle: Lärm, Gerüche, Schmerzen oder Übelkeit senken die Bereitschaft zu essen. Wer Mangelernährung reduzieren will, braucht daher ein Prozessdesign, das alle Schnittstellen umfasst und kleinste Hindernisse ernst nimmt.

Finanzielle und regulatorische Rahmenbedingungen beeinflussen die Umsetzung. Wenn Qualität an Prozeduren gemessen wird, aber nicht an essenziellen Versorgungsprozessen wie Ernährung, bleibt der Anreiz schwach. Dabei sind die ökonomischen Folgen von Mangelernährung erheblich. Längere Verweildauern, Komplikationen, Rehospitalisierungen und verzögerte Rehabilitation verursachen Kosten, die vermeidbar wären, wenn frühzeitig interveniert würde. Ein Kennzahlenset, das Ernährungsrisiko, Umsetzung der Therapie und klinische Outcomes abbildet, schafft Transparenz. Digitale Tools können helfen, von der Aufnahme bis zur Entlassung Daten zu erfassen, Trends zu erkennen und Maßnahmen rechtzeitig nachzujustieren. Entscheidend ist, dass Ernährungstherapie nicht als Zusatzleistung, sondern als Bestandteil der medizinischen Behandlung gilt. Dann wird sichtbar, dass ein gutes Ernährungsmanagement klinische Qualität steigert und zugleich Ressourcen schont.

Konkrete Schritte, die wirken

Erfolgreiche Kliniken setzen auf wenige, aber verbindliche Bausteine. Erstens führen sie ein flächendeckendes Screening bei Aufnahme und bei klinischen Änderungen ein. Das Ergebnis wird in der Akte prominent dokumentiert und triggert bei Auffälligkeit automatisch ein ernährungsmedizinisches Konsil. Zweitens definieren sie klare Energie- und Proteinzielwerte, legen die bevorzugte Applikationsform fest und prüfen täglich die Zielerreichung. Drittens etablieren sie geschützte Essenszeiten ohne nicht dringliche Unterbrechungen und bieten unterstütztes Essen an. Viertens verankern sie Fortbildungen für Pflege und ärztliche Dienste, damit alle Teammitglieder Warnsignale erkennen. Fünftens sorgen sie für eine systematische Entlassungsplanung, die Rezepte, Hilfsmittel und Folgetermine einschließt. So entsteht ein kontinuierlicher Pfad, der von der Aufnahme bis nach Hause reicht und Patientensicherheit sichtbar verbessert.

Für die ambulante Phase haben sich strukturierte Übergaben bewährt. Sie enthalten Diagnose, Risiko, Therapieziele und eine Liste konkreter Maßnahmen, etwa die Fortführung energie- und eiweißreicher Kost, Trinknahrung oder enteraler Ernährung, wenn erforderlich. Digitale Erinnerungen und kurze Telefonkontakte in den ersten zwei Wochen nach Entlassung stabilisieren die Umsetzung. Hausärztinnen und Hausärzte erhalten klare Hinweise, wann eine Anpassung sinnvoll ist und welche Laborwerte überwacht werden sollten. Spezialisierte Praxen und Homecare-Dienste können unterstützen, wenn Zugänge versorgt, Produkte gewählt und Toleranzen geprüft werden müssen. Kliniken profitieren davon, wenn sie die Ergebnisse messen. Einfache Kennzahlen wie Gewicht, Handkraft, Essprotokolle, Wiederaufnahmen und Infektionsraten zeigen, ob die Maßnahmen wirken. Je klarer Verantwortlichkeiten und Kommunikationswege geregelt sind, desto zuverlässiger greift Ernährungstherapie als fester Teil der Behandlung.

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