Dennis L.
Was wie Science-Fiction klingt, folgt nüchternen Entwicklungen der Evolutionsbiologie. Strukturen ohne klaren Selektionsvorteil werden seltener, ihre Funktion wandert auf Nebengleise, und Gene für ihre Ausbildung variieren stärker im Genpool. Anthropologische Daten, Populationsgenetik und Entwicklungsbiologie zeigen, dass bestimmte Körperteile in Häufigkeit und Bedeutung sinken. Fünf prominente Kandidaten liefern ein Lehrbuchbeispiel für vestigiale Organe, Polygenie und gene-kulturelle Ko-Evolution.
Die Evolutionsbiologie beschreibt Rudimente als Merkmale, die im Lauf der Stammesgeschichte ihre ursprüngliche Funktion weitgehend eingebüßt haben, ohne vollständig zu verschwinden. Das bedeutet nicht, dass ein Merkmal nutzlos wäre, sondern dass sein Selektionsdruck schwach ist, seine Ausprägung stark variiert und es im Organismus durch andere Strukturen oder Verhaltensweisen kompensiert werden kann. Der Übergang von Funktion zu Restfunktion erfolgt graduell. In der Populationsgenetik zeigt sich dies in veränderter Allelfrequenz, erhöhter Varianz und einem deutlichen Einfluss von Drift, Migration und assortativer Paarung. Entwicklungsbiologisch liegen oft flexible Zeitfenster zugrunde, in denen Signalkaskaden für Anlage, Wachstum und Differenzierung moduliert werden. Auf Ebene der Phänotypen beobachtet man dann Agenesie, Miniaturisierung, Verschiebung von Ansatzpunkten oder eine reduzierte Innervation.
Parallel dazu verändert sich die Umwelt des Menschen rasant. Küche, Kulturtechniken, Medizin, Prothetik und digitale Assistenz schaffen neue ökologische Nischen, in denen manche anatomische Details weder Nachteil noch Vorteil verursachen. Wenn ein Körperteil keinen klaren Fitnessbeitrag mehr liefert, wird seine genaue Gestalt für die Selektion zweitrangig. Der Effekt ist nicht linear, sondern stark populationsabhängig. Kostensensitive Strukturen wie Zähne und kleine Muskeln reagieren besonders schnell auf veränderte mechanische Anforderungen, Ernährungsprofile und Infektionslandschaften. Der Befund ist kein teleologisches Programm, sondern eine statistische Tendenz: Je geringer der Selektionsdruck, desto größer die Streuung, desto häufiger kommt es zu Auslassungen, Varianten und funktionellen Ersatzleistungen.
Die dritten Molaren sind ein Klassiker der Evolutionsdidaktik. Sie entstehen spät, benötigen Raum im Kiefer und verursachen oft Komplikationen. In zahlreichen Populationen steigt die Häufigkeit, dass einer oder mehrere Weisheitszähne gar nicht angelegt werden. Dieser Trend lässt sich mit veränderter Kaubelastung, feineren, thermisch gegarten Nahrungsmitteln und der Reduktion mechanischer Beanspruchung erklären, was den Selektionsvorteil kräftiger Kiefer sinken lässt. Populationsdaten zeigen große Spannbreiten, die von einstelligen bis hohen zweistelligen Prävalenzen reichen. Besonders relevant ist, dass Agenesie polygenetisch bestimmt ist und mit weiteren dentalen Anomalien kovariieren kann. Damit wird der dritte Molar zu einem Modellfall, wie Ökologie, Ernährung und Entwicklungsprogramme zusammenwirken, um ein Merkmal innerhalb weniger hundert Generationen sichtbar zu verschieben.
Groß angelegte Röntgenserien untermauern diese Dynamik mit konkreten Zahlen. Eine Untersuchung mit mehreren Tausend Probanden berichtet, dass über ein Drittel der untersuchten Individuen mindestens einen dritten Molar nicht aufweist, mit deutlichen Unterschieden zwischen Ober- und Unterkiefer sowie Geschlechtern. Die Autoren diskutieren Zusammenhänge mit Hypodontie und Kronenmorphologie, was auf ein breiteres Entwicklungsmodul schließen lässt. Der Befund passt zu einer gene-kulturellen Ko-Evolution, in der veränderte Ernährungspraktiken den Selektionsdruck auf robuste Molaren mindern und Varianten ohne dritte Molaren häufiger bestehen bleiben. PLOS ONE Studie.
Die kleinen Ohrbewegungsmuskeln beim Menschen sind ein neuraler Anachronismus. In vielen Säugetieren drehen sie die Ohrmuschel aktiv in Richtung einer Schallquelle. Beim Menschen bleibt davon meist nur ein Submillimeter-Spielraum und eine messbare EMG-Aktivität, die bei gerichteter Aufmerksamkeit ansteigt. Das System ist erhalten, obwohl die mechanische Leistung marginal ist. Dieses Muster entspricht dem Konzept eines neuralen Fossils: Die Schaltkreise existieren und reagieren, doch die periphere Mechanik ist nicht mehr ausgeprägt genug, um die Ohrmuschel effektiv zu orientieren. Die Funktion verschiebt sich damit vom mechanischen Nutzen zur Rolle als Marker kognitiver Zustände, etwa von Höranstrengung oder auditiver Selektion.
Neuere Neurophysiologie nutzt diese Restmuskeln als Fenster in die Aufmerksamkeitsdynamik. In kontrollierten Hörszenarien zeigen die posterioren und superioren Aurikulärmuskeln eine modulierte Aktivität, wenn Probanden Sprache aus Störgeräusch herausfiltern. Das ist physiologisch plausibel, weil dieselben Hirnstämme und Hirnnervenkerne involviert sind, die auch bei Tieren die Pinna richten. Für die Evolution bedeutet es: Die verschalteten Schaltungen bleiben, solange sie nicht schaden, selbst wenn die mechanische Endleistung kaum noch Nutzen bringt. Das Resultat ist ein Stück Biologiegeschichte im Gesichtsfeld, das heute mehr als Sensor denn als Aktor funktioniert. Frontiers in Neuroscience.
Der M. palmaris longus ist eine schmale, sehnige Struktur am Unterarm, die bei Beugung und Opposition der Hand eine Zusatzrolle spielt. Weltweit variiert seine Abwesenheit enorm, in manchen Populationen ist er bei deutlich mehr als einem Zehntel der Menschen beid- oder einseitig nicht vorhanden, in anderen fast immer ausgebildet. Seine funktionelle Redundanz wird klinisch dadurch belegt, dass Chirurginnen die Sehne routinemäßig als Transplantat entnehmen, ohne spürbare Defizite im Alltag zu verursachen. Entwicklungsbiologisch scheint der Muskel spät zu differenzieren und zeigt häufige Varianten von Ursprung, Ansatz und Sehnenverlauf. Das alles sind Indikatoren schwachen Selektionsdrucks: Variation ist toleriert, Abwesenheit nicht nachteilig genug, um auszusortieren.
Im Kontext der Evolution der Hand ist der Palmaris longus daher ein Fenster in die Feinabstimmung zwischen Kraft, Präzision und Sensorik. Die hohe interindividuelle Varianz passt zu einem System, das primär über größere Player wie Flexor digitorum superficialis und profundus bestimmt wird. Alltag und Arbeitswelt verlangen heute selten maximale Kletter- oder Klammerkräfte im Dauerbetrieb, wodurch die biomechanischen Trade-offs zugunsten von Präzisionsgriff und neuromuskulärer Kontrolle verschoben sind. In einer solchen Umgebung können kleine Helfermuskeln an Bedeutung verlieren, ohne zu verschwinden. Sie bleiben als variable Option bestehen, die der Organismus nutzen kann, wenn sie vorhanden ist, die aber nicht zwingend ausgebildet werden muss.
Der M. pyramidalis ist ein kleines, dreieckiges Muskelchen in der vorderen Bauchwand, das die Linea alba spannt. Seine Prävalenz schwankt ausgeprägt. In Bildgebung und Sektionen findet man ihn oft beidseitig, gelegentlich nur einseitig, nicht selten fehlt er vollständig. Funktionell übernehmen benachbarte Faszien und der M. rectus abdominis seine Aufgaben, was die Abwesenheit kompensiert. Aus evolutionsbiologischer Sicht deutet das Muster auf ein Merkmal hin, das unter veränderten Anforderungen der Bipedie, verfeinerter Rumpfstabilisation und Schwangerschaftsanpassungen redundant geworden ist. Wo Fasziennetz und intraabdominale Druckregulation den Ton angeben, wird ein kleines lokales Spannorgan entbehrlich. Der Organismus toleriert deshalb eine breite Range an Morphologien, ohne dass klinisch gravierende Konsequenzen entstehen.
Ein zweiter, weniger bekannter Kandidat ist die Plica semilunaris im inneren Augenwinkel, ein Rest der Nickhaut, die bei vielen Wirbeltieren das Auge quer schützt. Beim Menschen ist diese Falte klein, gefäßreich und an Tränenfilm und Augenwinkelmechanik beteiligt, ihr Fehlen oder eine sehr reduzierte Ausprägung ist funktionell meist unerheblich. Der Übergang von aktiver Schutzmembran zu passiver Falte illustriert den Weg von starker Selektion zu Restfunktion. In einer Welt mit optischen Hilfen, Klimatisierung und geringerer Exposition gegenüber Staub und Vegetation sinkt der relative Vorteil einer beweglichen Nickhaut weiter. Entsprechend bleibt die Plica semilunaris als morphologische Erinnerung bestehen, ihre Variation ist hoch, ihr Beitrag zur Fitness gering.
Frontiers in Neuroscience, Electromyographic correlates of effortful listening in the vestigial auriculomotor system; 10.3389/fnins.2024.1462507
PLOS ONE Studie, Prevalence of Third Molar Agenesis: Associated Dental Anomalies in Non-Syndromic 5923 Patients; 10.1371/journal.pone.0162070