In der Dämmerung hebeln zwei Männer ein Fenster eines verlassenen Krankenhauses in Goiânia auf, schieben sich durch den Staub eines verwaisten Behandlungsraums und richten ihren Blick auf ein massives Bestrahlungsgerät aus Stahl und Blei. Was für sie wie wertvoller Metallschrott aussieht, ist in Wahrheit der Kern einer Cäsium-Quelle für die Krebsbehandlung. Am nächsten Tag steht das Gerät in einem einfachen Hinterhof, die Verkleidung wird mit improvisierten Werkzeugen geöffnet, bis aus einer Metallkapsel fein glitzerndes, blau leuchtendes radioaktives Pulver hervortritt. Die funkelnden Körnchen wandern von Hand zu Hand, in Hosentaschen und Küchen, während niemand ahnt, dass hier einer der schwersten Strahlenunfälle der Zivilgeschichte seinen Anfang nimmt.
Im Verlauf weniger Wochen werden zehntausende Bewohner einer brasilianischen Großstadt auf Strahlung untersucht, mehrere Menschen sterben an akuter Strahlenkrankheit, und hunderte Häuser, Gärten und Fahrzeuge gelten als dauerhaft belastet. Der Goiânia Unfall zeigt, wie ein einzelnes Strahlentherapiegerät aus einem verlassenen Krankenhaus zu einer unkontrollierten radioaktive Kontamination führen kann, wenn Aufsicht, Sicherung und Entsorgung versagen. Der internationale Abschlussbericht der Internationalen Atomenergieorganisation dokumentiert, wie aus einem zunächst einfachen Diebstahl von Metallschrott ein INES-Stufe-5-Strahlenunfall wurde, bei dem etwa 112.000 Menschen untersucht und 249 als kontaminiert eingestuft wurden. Der IAEA-Bericht zum radiologischen Unfall in Goiânia gilt bis heute als Referenzfall für den Umgang mit verwaisten Strahlenquellen in dicht besiedelten Gebieten.
Ausgangspunkt der Ereignisse war ein privat betriebenes Strahlentherapieinstitut im Zentrum von Goiânia, das Mitte der 1980er Jahre umzog und ein Teletherapiegerät mit Cäsium-137 am alten Standort zurückließ. Das Gebäude geriet in einen juristischen Streit, Sicherungsmaßnahmen blieben lückenhaft, und über Jahre hinweg stand die Anlage in den Räumen eines verfallenden Komplexes. Am 13. September 1987 nutzten zwei Männer die Gelegenheit, in das verlassene Krankenhaus einzudringen, um Metallschrott zu bergen. Sie rollten das schwere Bestrahlungsgerät mit einfachen Hilfsmitteln aus dem Gebäude, zerlegten Stahl- und Bleiverkleidungen und arbeiteten sich langsam an die innere Quelle heran, ohne Ahnung von der darin verborgenen Aktivität von mehreren zehn Terabecquerel Cäsium 137. Schon während der Demontage klagte einer der Männer über Übelkeit und Schwellungen an der Hand, doch die Symptome wurden zunächst als banale Vergiftung fehlinterpretiert.
Die eigentliche Katastrophe begann, als das Innere der Quelle freigelegt war. In einem Hinterhof der Familie des Schrotthändlers wurde die Metallkapsel geöffnet, und im schwachen Licht zeigte sich ein kristallines Material, das im Dunkeln blau leuchtete. Fasziniert sammelte der Besitzer das radioaktives Pulver in einem Behälter, zeigte es Verwandten und Nachbarn und verteilte kleine Mengen als vermeintlich harmloses Andenken. Kinder spielten mit den Körnchen, rieben sie auf der Haut oder nahmen sie mit nach Hause, während Erwachsene sie in der Küche auf dem Tisch liegen ließen. Die funkelnden Partikel gelangten an Kleidung, in Busse, auf Sofa-Polster und in Bettwäsche. Erst Tage später, als sich in der Nachbarschaft ungewöhnlich viele Fälle mit ähnlichen Beschwerden häuften und eine Familie den Staub in einem Plastikbeutel in eine Klinik brachte, wurde die Strahlung im Krankenhaus mit einem Messgerät nachgewiesen und der Goiânia Unfall offiziell erkannt.
Als Strahlenschutzexperten in den betroffenen Vierteln eintrafen, zeigten ihre Detektoren hohe Zählraten bereits vor den Häusern der ersten Betroffenen. Im Inneren fanden sie Hotspots in Kinderbetten, auf Sofas, auf dem Boden von Wohnzimmern und in der Erde kleiner Innenhöfe, wo das radioaktives Pulver im Alltag verteilt worden war. Viele Bewohner hatten die Körnchen bereits aufgewischt, in Abfalleimer geworfen oder beim Waschen mit dem Abwasser in die Kanalisation befördert. Ein Teil der radioaktiven Kontamination klebte an Schuhsohlen und Fahrzeugreifen, sodass Messgeräte auch Busse, Taxis und Straßenabschnitte weit entfernt vom ursprünglichen Fundort anschlugen. Schätzungen zufolge wurden in der ersten Phase etwa 112.000 Einwohner von Goiânia untersucht, knapp 250 davon waren so stark kontaminiert, dass spezielle Maßnahmen nötig wurden, und 20 Menschen zeigten klinische Zeichen einer schweren Strahlenexposition.
Die Dekontamination entwickelte sich zu einem Großprojekt, das tiefe Eingriffe in den Alltag der Stadt bedeutete. In stark belasteten Häusern wurden Bodenbeläge entfernt, Putz abgeschlagen und ganze Räume bis auf tragende Elemente zurückgebaut. Gartenboden wurde abgetragen, Bäume gefällt und Schrottteile, die mit der Quelle in Kontakt gekommen waren, in Stahlfässer verpackt. Insgesamt fielen rund 6000 Tonnen Abfälle an, die als radioaktiver Müll in einem abgelegenen Lager deponiert werden mussten, obwohl die ursprüngliche Quelle nur etwa 90 Gramm Cäsium-137 in Salzform enthielt. Rückblicke auf das Ereignis betonen, dass neben der physischen Sanierung auch die psychologische Dimension eine große Rolle spielte, weil Bewohner aus den betroffenen Vierteln Stigmatisierung, wirtschaftliche Einbußen und langanhaltende Angst vor unsichtbarer Reststrahlung erlebten.
Die Quelle im Bestrahlungsgerät enthielt Cäsium-137, ein Spaltprodukt, das in Kernreaktoren entsteht und in der Medizin wegen seiner gut definierten Gammastrahlung genutzt wird. In Goiânia lag es als leicht wasserlösliches Cäsiumchlorid vor, was für die Bioverfügbarkeit entscheidend ist: Gelangt es in den Körper, verhält es sich chemisch ähnlich wie Kalium und verteilt sich relativ gleichmäßig im Weichgewebe, insbesondere in der Muskulatur. Die physikalische Halbwertszeit von Cäsium-137 beträgt etwa 30 Jahre, sodass eine freigesetzte Quelle über Jahrzehnte Strahlung abstrahlt, wenn sie nicht vollständig geborgen und sicher eingeschlossen wird. Die Gammastrahlung kann mehrere Zentimeter Gewebe durchdringen und verursacht auf mikroskopischer Ebene Ionisationen, die DNA-Stränge brechen und Zellstrukturen schädigen. Diese Kombination aus hoher Aktivität, guter Löslichkeit und langem radioaktivem Zerfall macht eine Quelle wie die in Goiânia besonders kritisch, wenn sie unkontrolliert in eine städtische Umgebung gelangt.
Während in Goiânia einzelne Betroffene Dosen im Bereich mehrerer Sievert erhielten, ist für weite Teile der Bevölkerung und viele Rettungskräfte eher die Frage nach längerfristigen niedrigen Expositionen relevant. Studien zu niedrigen Strahlendosen bei beruflich exponierten Personen zeigen, dass auch Werte im Bereich von wenigen Millisievert pro Jahr das Krebsrisiko erhöhen können, wenn sie über lange Zeiträume kumulieren. Eine Auswertung von Strahlenarbeitern deutet darauf hin, dass die krebsbedingte Mortalität pro Gray Dosisanstieg deutlich höher ist als bisher angenommen, selbst im Niedrigdosisbereich. Eine Auswertung zu Niedrigdosis-Strahlung beschreibt, dass auch scheinbar geringe Belastungen nicht unterschätzt werden sollten. Vor diesem Hintergrund erhält der Goiânia Unfall eine doppelte Bedeutung: als Extremfall eines lokal sehr hohen Dosisniveaus und als Mahnung, auch alltägliche Strahlenexpositionen systematisch zu überwachen.
Bei den am stärksten exponierten Personen traten typische Strahlenkrankheit Symptome auf, die in ihrer Abfolge gut dokumentiert sind. Kurz nach dem intensiven Kontakt mit der Quelle kam es zu Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und einem ausgeprägten Gefühl von Schwäche. Nach einer scheinbaren Erholungsphase entwickelten die Betroffenen Fieber, starke Durchfälle, Hautrötungen und Schmerzen, an den Händen und Armen bildeten sich Läsionen, die an thermische Verbrennungen erinnerten. Labordaten zeigten einen drastischen Abfall der weißen Blutkörperchen und Blutplättchen, was auf eine schwere Schädigung des Knochenmarks durch ionisierende Strahlung hinweist. Blutproben und Chromosomenanalysen der Betroffenen wurden später genutzt, um mittels biologischer Dosimetrie die erhaltenen Dosen abzuschätzen und Dosis-Wirkungs-Beziehungen für das Knochenmark zu verfeinern, wie eine systematische Auswertung des Unfalls zeigt. Eine Studie zur biologischen Dosimetrie nutzt die Daten aus Goiânia, um Modelle für zukünftige radiologische Ereignisse zu verbessern.
Die Behandlung reichte von symptomatischer Therapie mit Flüssigkeit, Antibiotika und Transfusionen bis zu gezielten Dekorporationsmaßnahmen gegen die innere Kontamination mit Cäsium-137. Eine zentrale Rolle spielte dabei „Berliner Blau“, ein Komplexbildner, der Cäsium-Ionen im Darm bindet und ihre Ausscheidung beschleunigt. Klinische Analysen zeigen, dass die Gabe dieses Mittels die effektive Dosis im Körper um durchschnittlich mehr als 50 Prozent senken kann, wenn die Behandlung früh beginnt. Eine detaillierte Auswertung der kontaminierten Patienten aus Goiânia beschreibt, dass Prussian Blue die biologische Halbwertszeit von Cäsium deutlich verkürzt und so das Risiko langfristiger Schäden mindert. Eine Fallstudie zur inneren 137Cs-Kontamination fasst die Dosisreduktion durch dieses Medikament zusammen.
Der Goiânia Unfall hat weltweit verdeutlicht, dass Strahlenschutz Maßnahmen nicht nur Kernkraftwerke und große Forschungsanlagen betreffen, sondern jedes einzelne Gerät, das radioaktive Quellen enthält. Nationale und internationale Regelwerke wurden angepasst, um verwaiste Quellen zu identifizieren, Registrierungs- und Meldepflichten zu verschärfen und die Entsorgung besser zu regeln. Behörden setzen verstärkt auf Schulungen für Schrotthändler, Feuerwehr und Polizei, damit ungewöhnliche Metallteile mit auffälligen Markierungen nicht als Schrott, sondern als potenzielle Strahlenquelle erkannt werden. Die Forschung zu Wirkung und Risiken ionisierender Strahlung, wie sie etwa von spezialisierten Fachbehörden koordiniert wird, liefert die Grundlagen für Grenzwerte, Einsatzprotokolle und medizinische Leitlinien, die aus realen Unfällen abgeleitet werden.
Gleichzeitig hat die Katastrophe von Goiânia den Blick auf alltägliche Formen von Radioaktivität geschärft. Die Tagseite zu Radioaktivität bündelt Themen vom radioaktiven Radon in Wohnungen über kontaminierte Böden bis hin zu neuen Messmethoden. Moderne Sensoren nutzen beispielsweise Materialien wie Hackmanit, ein Mineral, das bei Kontakt mit Strahlung die Farbe ändert und damit als visuelles Dosimeter dienen kann; dazu liegen detaillierte Experimente vor, die in einem Bericht zum Farbwechsel von Hackmanit bei Radioaktivität zusammengefasst sind. Solche Entwicklungen zeigen, dass Lehren aus Ereignissen wie dem Goiânia Unfall nicht nur in Vorschriften münden, sondern auch in neue Materialien, Detektoren und Diagnoseverfahren, mit denen Strahlung im Alltag schneller erkannt und beherrscht werden kann.