Ein englischer Gouverneur kehrt 1590 auf eine kleine Insel vor der Küste des heutigen North Carolina zurück und findet eine befestigte, aber menschenleere Siedlung, in der nur das Wort Croatoan als Spur geblieben ist. Die Roanoke-Kolonie gilt seither als verlorene Kolonie und als eines der hartnäckigsten historischen Rätsel der Kolonialgeschichte Nordamerikas. Der Text zeichnet die Ausgangslage, die wichtigsten Theorien und die archäologischen Funde nach, die zwischen Roanoke, Hatteras Island und dem Hinterland verteilt sind. Gleichzeitig zeigt er, warum das Verschwinden von 115 Männern, Frauen und Kindern bis heute Forscher beschäftigt.
In den Sommermonaten stehen Besucher auf Holzstegen zwischen Kiefern und Dünengras, hören das ferne Donnern der Brandung und blicken auf die Rekonstruktion eines kleinen Erdwerks auf Roanoke Island. An genau diesem Ort suchte der Gouverneur John White im August 1590 nach den rund 115 Männern, Frauen und Kindern, die er drei Jahre zuvor als Roanoke-Kolonie an der amerikanischen Küste zurückgelassen hatte. Statt Rauch über Feuerstellen, Stimmen aus einfachen Holzhäusern und Spuren landwirtschaftlicher Arbeit fand er einen umgebauten, stärker befestigten Platz – und das Wort Croatoan, sauber in einen Pfosten der Palisade eingeritzt. Die Siedler, darunter das berühmte Kind Virginia Dare, waren verschwunden. Seit dem 19. Jahrhundert wurde diese verlorene Kolonie in Theaterstücken, Romanen und populären Darstellungen immer wieder neu erzählt, weil sie zahlreiche Fragen bündelt: Was ist mit der Kolonie geschehen, wofür steht Croatoan und wie lässt sich ein Verschwinden ohne offensichtliche Gewaltspuren historisch einordnen?
Um die Dimension dieses Rätsels zu verstehen, hilft ein Blick auf die politischen und geografischen Rahmenbedingungen. Die Roanoke-Kolonie entstand als Teil der englischen Versuche, im späten 16. Jahrhundert dauerhaft Präsenz in Nordamerika aufzubauen und mit spanischen Besitzungen zu konkurrieren. Die Insel Roanoke liegt innerhalb der flachen Lagunen und Barriereinseln der Outer Banks, getrennt vom offenen Atlantik durch Sandbänke und Riffe, die Stürme und Navigation erschweren. Die Siedler sollten ursprünglich weiter nach Norden in die Chesapeake Bay gebracht werden, blieben aber nach Konflikten mit der Schiffsführung auf Roanoke zurück. Die Versorgung hing an einer mehrere tausend Kilometer langen Atlantikroute, die durch Krieg mit Spanien zusätzlich blockiert wurde. Als White im Jahr 1587 nach England zurücksegelte, um Nachschub zu organisieren, war den Roanoke Siedler klar, dass sie in einer gefährdeten, nur provisorisch gesicherten Position lebten. Die Kombination aus unklarem Auftrag, knappen Ressourcen und komplexen Beziehungen zu benachbarten indigenen Gruppen schuf eine Lage, in der schon kleine Verschiebungen gravierende Folgen haben konnten.
Die Roanoke-Kolonie war bereits der dritte Versuch, auf der Küste des heutigen North Carolina Fuß zu fassen. Nach einer Erkundungsfahrt 1584 und einer militärisch geprägten Siedlung 1585 sollte die Gruppe von 1587 erstmals eine dauerhafte, zivile Kolonie begründen. Unter den Kolonisten befanden sich Handwerker, Bauern, Soldaten und ganze Familien, was auf eine langfristige Planung schließen lässt. Zeitgenössische Berichte von John White, die in späteren Abschriften überliefert sind und heute etwa über die digitale Edition des Berichts seiner Rückkehr im Jahr 1590 zugänglich sind, schildern eine Kolonie, die schon bei seiner Abreise mit Versorgungsengpässen, Spannungen mit Teilen der indigenen Nachbarschaft und der Aussicht auf einen Ortswechsel ins küstennahe Hinterland konfrontiert war. White beschreibt, dass bereits vor seiner Abreise vom Plan die Rede war, etwa 50 Meilen, also rund 80 Kilometer, ins Landesinnere zu ziehen, um einen besser geschützten Standort zu finden.
In der berühmten Passage über die Rückkehr schildert White den Moment, in dem die Suchmannschaft Spuren im Sand, das verstärkte Erdwerk und schließlich die eingeritzten Buchstaben CROATOAN findet. Nach seiner Darstellung war ein geheimes Zeichen vereinbart worden: Die Kolonisten sollten beim Verlassen des Ortes den Namen ihres neuen Siedlungsplatzes in Holz ritzen und zusätzlich eine eingeritzte Kreuzmarkierung verwenden, falls sie unter Zwang oder in akuter Gefahr aufbrechen müssten. White betont, dass zwar der Name Croatoan, aber kein Kreuz sichtbar war, die Palisade intakt und die Häuser geordnet abgebaut wirkten. Gleichzeitig fehlten einige schwere Gegenstände, andere lagen verstreut im Gras. Diese Beschreibung, wie sie in der überlieferten Quelle nachzulesen ist, bildet bis heute den Kern des historischen Dossiers, aus dem Forschende die Ereignisse auf Roanoke zu rekonstruieren versuchen.
Für spätere Generationen wirkt Croatoan wie eine dunkle Chiffre, die in Romanen, Serien und Horrorfilmen gerne als geheimnisvolles Einzelwort inszeniert wird. Historisch verweist der Begriff zunächst auf einen konkreten Ort und auf eine Gruppe von Menschen. Croatoan war die Bezeichnung für eine Insel südlich von Roanoke, die heute weitgehend mit Hatteras Island identifiziert wird, sowie für eine dort lebende indigene Gemeinschaft, die in den Quellen des 16. Jahrhunderts mal als Croatan, mal als Croatoan erscheint. Bereits die frühen Erkundungsfahrten 1584 und 1585 hatten dort überwiegend freundliche Kontakte verzeichnet, und der Dolmetscher Manteo, der mehrfach zwischen England und Nordamerika pendelte, stammte aus dieser Gruppe. In einem Netz von Bündnissen und Rivalitäten zwischen verschiedenen Algonkin sprechenden Völkern gingen die Croatoan eine besonders enge Beziehung zu den Engländern ein, was Reiserouten, Handel und mögliche Zufluchtsorte beeinflusste.
Wenn White 1590 den Namen Croatoan an der Palisade sieht, liegt für ihn deshalb nahe, dass die Kolonisten ihre geplante Verlagerung der Siedlung mit einem Umzug zu den verbündeten Croatoan verbunden haben könnten. Zusammenfassungen der Ereignisse, wie sie etwa vom Fort Raleigh National Historic Site herausgegeben werden, betonen diesen Zusammenhang zwischen Ortsname, Signalabrede und bekannten Handelswegen. Aus Sicht der Siedler versprach ein gemeinsamer Wohnort mit Verbündeten bessere Chancen, lokale Nahrungsressourcen zu nutzen und Schutz vor feindlichen Gruppen zu erhalten. Erst in späteren Jahrhunderten löste sich Croatoan in der Erinnerung zum scheinbar losgelösten Zauberwort, das von Edgar Allan Poe bis zu modernen Fernsehserien eher als atmosphärischer Effekt eingesetzt wurde, während sein geographischer und politischer Kontext aus dem Blick geriet.
Weil White Roanoke wegen Sturmwarnungen wieder verlassen musste, ohne Croatoan selbst zu erreichen, blieb die direkte Nachverfolgung aus. Spätere englische Kolonisten, die Anfang des 17. Jahrhunderts Jamestown gründeten, fanden keine eindeutige Spur der Roanoke-Kolonie. In der Kolonialgeschichte Nordamerikas entwickelte sich daraus ein lang anhaltender Diskurs, in dem sich militärische Berichte, indigene Überlieferungen, archäologische Hinweise und spekulative Erzählungen überlagern. Die Roanoke-Kolonie wurde so zu einer verlorenen Kolonie, deren Verschwinden immer wieder mit neuen Deutungen gefüllt wurde, von nüchternen Szenarien schrittweiser Assimilation bis zu dramatischen Vorstellungen von Massakern, Schiffbrüchen oder geheimen Fluchten. Dabei stellen sich mehrere Kernfragen: Zog die Gruppe gemeinsam um, teilte sie sich auf, oder gingen Siedler an unterschiedliche Orte? Kam es zu gewaltsamen Konflikten mit Nachbarn, oder dominierten Krankheit, Hunger und Erschöpfung?
Die wichtigsten historischen Erklärungsansätze lassen sich zu einigen wenigen Grundmodellen bündeln, auch wenn sie in Details voneinander abweichen:
Historiker und Archäologen gewichten diese Modelle unterschiedlich, doch einige Eckpunkte gelten als relativ robust. Die Abwesenheit des vereinbarten Notzeichens spricht gegen eine plötzliche, chaotische Flucht, und die geordnet abgebauten Häuser deuten eher auf einen geplanten Ortswechsel hin. Berichte, die von Massakern durch die Powhatan erzählen, sind oft Jahrzehnte später niedergeschrieben und verwenden teils schwer überprüfbare Quellen. Analysen der National Park Service Seiten zu den wichtigsten Theorien verweisen daher auf die Möglichkeit, dass einzelne Gewaltakte, kurzfristige Fluchtbewegungen und längerfristige Integration in verbündete Gemeinschaften parallel stattgefunden haben könnten, ohne dass sich ein einziges, lineares Narrativ festlegen lässt. Die Vorstellung einer einzigen dramatischen Katastrophe wird von der Gesamtheit der Hinweise eher relativiert.
Während schriftliche Quellen Lücken und Verzerrungen aufweisen, liefern archäologische Funde seit einigen Jahrzehnten vorsichtige zusätzliche Hinweise. Entlang der Outer Banks und im angrenzenden Hinterland untersuchen mehrere Teams Siedlungsplätze indigener Gruppen, in deren Schichten auch einzelne europäische Objekte aus der fraglichen Zeit auftauchen. Besonders im Fokus stehen Fundorte auf Hatteras Island, dem historischen Croatoan, wo Freiwillige und Facharchäologen Keramik, Tierknochen und Metallfragmente sieben. Berichte über diesen Ort betonen, dass archäologische Funde dort sowohl typische Croatoan-Keramik als auch englische Glasperlen, Fragmente eines Schwertgriffs, Teile von Schusswaffen und eine kleine Schiefertafel mit eingeritztem Buchstaben enthalten. Ein populärer Überblick in National Geographic zur Roanoke-Kolonie beschreibt diese Mischung als möglichen Hinweis darauf, dass zumindest ein Teil der Kolonisten auf Hatteras Island mit den Croatoan zusammenlebte und einige ihrer europäischen Gebrauchsgegenstände behielt.
Parallel dazu lenkten seit Beginn des 21. Jahrhunderts Untersuchungen auf dem Festland nördlich von Roanoke das Augenmerk auf einen Ort, den Forschende als Site X bezeichnen. Dort wurden bei Grabungen in einem Bereich mit indigener Keramik auch Bruchstücke englischer Border-Ware-Keramik entdeckt, die datierungsmäßig gut zur Roanoke-Kolonie passen und sich nicht ohne Weiteres als spätere Einfuhr erklären lassen. Der Autor eines Überblicksartikels in Popular Archaeology zu den archäologischen Befunden schildert, dass kein Szenario ohne Annahmen auskommt: Entweder lebten dort tatsächlich Nachfahren der Kolonisten oder die Objekte gelangten über Handel in die indigene Gemeinschaft. Fachleute betonen, dass europäische Gegenstände im 16. und 17. Jahrhundert schnell als wertvoller Rohstoff in ganze Regionen verbreitet werden konnten, sodass ihre bloße Anwesenheit noch keine direkte Anwesenheit von Siedlern beweist. Insgesamt zeichnen die archäologischen Funde jedoch das Bild eines Netzes aus Kontakten und Ortswechseln, in dem die Roanoke-Kolonie nicht schlagartig verschwand, sondern sich nach und nach in die soziale und materielle Welt ihrer Nachbarn einfügte.
Das Verschwinden der Roanoke-Kolonie gehört zu einer ganzen Familie von Geschichten, in denen reale historische Ereignisse und narrative Ausschmückung eng miteinander verwoben sind. Ähnlich wie bei Berichten über das Bermudadreieck verstärken Lücken in der Dokumentation die Bereitschaft, unwahrscheinliche oder spektakuläre Erklärungen zu bevorzugen. Hinzu kommt, dass es sich bei Roanoke um einen Gründungsversuch der englischen Kolonialgeschichte handelt, dem in der späteren nationalen Erinnerung ein symbolischer Wert zugeschrieben wurde. Für viele Leser wirkt besonders die Vorstellung eindrücklich, dass die erste dauerhaft gedachte englische Zivilsiedlung auf dem amerikanischen Kontinent spurlos verschwindet und nur ein Wort als Hinweis zurücklässt. Die Tatsache, dass Croatoan gleichzeitig ein konkreter Ort, eine konkrete Gemeinschaft und ein kulturell überformtes Symbol ist, verstärkt die Attraktivität dieser Erzählung.
Die Narrative um die Roanoke-Kolonie knüpfen zudem an andere Motive des Verschwindens und Wiederauftauchens an. Beiträge zu Geisterschiffen auf den Weltmeeren oder zu verschollenen Städte greifen ähnliche Muster auf: Schiffe oder Siedlungen werden verlassen aufgefunden, es bleiben einzelne materielle Spuren, und spätere Generationen füllen die Leerstellen mit Legenden, Spekulationen und neuen wissenschaftlichen Hypothesen. Im Fall von Roanoke ist das historische Material vergleichsweise reich, und trotzdem reichen die Informationen nicht aus, um jede einzelne Entscheidung der Kolonisten zu rekonstruieren. Gerade diese Mischung aus Dokumentation und Ungewissheit macht das Thema für Forschung und Öffentlichkeit langfristig attraktiv.
Für die Fachwelt bleibt Roanoke damit ein Laborfall dafür, wie sich aus verstreuten Quellenlagen verantwortungsvoll Erzählungen konstruieren lassen. Die archäologischen Funde, die historischen Texte und die spätere Erinnerungskultur zwingen dazu, komplexe Faktoren wie Klimaschwankungen, Ressourcennutzung, indigenes politisches Kalkül und koloniale Strategien gemeinsam zu denken. In der Praxis heißt das, dass das Verschwinden der Kolonie eher als Prozess denn als einzelnes dramatisches Ereignis verstanden wird. Wahrscheinlich spalteten sich Gruppen aus der Roanoke-Kolonie ab, schlossen sich den Croatoan und anderen Nachbarn an, verlagerten sich entlang von Flüssen und Küsten und gingen schließlich in deren Gesellschaften auf. Das erklärt, warum archäologische Funde zwar englische Objekte, aber keine klar identifizierbare Siedlung der Kolonisten zeigen. Das Rätsel verliert dabei nicht seine Faszination, wird aber aus dem Bereich der puren Spekulation in eine nüchterne, wenn auch unvollständige Rekonstruktion der Vergangenheit überführt, in der archäologische Funde, Croatoan als Hinweis und die Roanoke-Kolonie als historische Fallstudie eng miteinander verwoben sind.